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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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gesagt!« Ohne Güler noch einmal anzuschauen, ging er
die Stufen hinunter. »Mein Leben ist mir entgleist! Was habe ich bloß gesagt!«
    Draußen wehte vom Marmarameer her
ein leichter, ziemlich kalter Wind. Refık kannte diese milde Winterkälte
gut, die den Lodoswinden vorausging. Nişantaşı roch nach Meer
und Tang. Überall setzte dieser Geruch sich fest, in den Lindenbäumen, den Läden,
den schmutzigen neuen Apartmentblocks, den alten Häusern, den Männern mit Krawatte. Refık ging
am Polizeirevier vorbei auf die Hauptstraße. Die Menschen waren auf dem
Heimweg. Importeure, Bauunternehmer, auf den Tod wartende
Abdülhamit-Paşas, Krämerlehrlinge, Gärtner, Putzfrauen, Bankiers, Beamte,
Trambahnfahrgäste, alle wollten nach Hause. Keiner schien den Tanggeruch
wahrzunehmen, ein jeder nur ganz in seinem Alltagsleben befangen zu sein, ohne
etwas zu riechen. Am Nişantaşıplatz blieb er stehen. »Ich gehe
jetzt nach Hause, und dann esse ich zu Abend! Anschließend lese ich. Warum soll
mein Leben entgleist sein?« Gegenüber sah er schon Licht in seinem Haus. Und es
hing schon ein bestimmter Geruch in der Luft: Es duftete nach Abendessen, nach
Familie, nach Perihans Haut, nach dem Babyschweiß seiner Tochter. Im Kopf hatte
er die geschiedene Frau. Er war sich selbst nicht geheuer. »Ich fühle mich wie
ein unpersönlicher Gegenstand ohne Vergangenheit und Zukunft, wie ein
Blumentopf oder ein Türklopfer!« Den Bart hatte er sich abrasiert, da Männer
seines Schlages keinen Vollbart trugen. Aber da sich immer ein Kompromiss
findet, hatte er den Schnurrbart stehenlassen. Er ging über die Straße, die
Gartenglocke klingelte, er betrat das Haus: Es war voller Wärme und Leben. Er
ging nach oben. Perihan war bei der Kleinen, sie trug ein blaues Kleid und war
geschminkt.
    »Ich habe mich extra geschminkt zu
deinem ersten Arbeitstag. Und das Kleid da angezogen!«
    »Gut so!« Refık fühlte sich
gleich stabiler.
    Gemeinsam gingen sie zum Abendessen
hinab. Osman schwatzte beim Essen fröhlich drauflos, sichtlich hocherfreut
darüber, dass sein Bruder nach Monaten wieder ins Büro gekommen war. Auch Nigân
war guter Dinge. Nermin beteiligte sich ebenfalls eifrig am Gespräch, woraus zu
schließen war, dass die Verstimmung zwischen ihr und ihrem Mann beendet war.
Wenn die beiden sich stritten, redeten sie nicht miteinander und besprachen im
Beisein von anderen nur das Notwendigste. Nigân erzählte beim Essen eine
Anekdote aus dem Leben von Cevdet. Die Enkel trieben allerlei Schabernack, doch
ließ man sie gewähren.
    Nach dem Essen half Refık dem
kleinen Cemil bei seinen Rechenaufgaben und ging dann ins Arbeitszimmer hinauf.
Er wollte an seinem Tagebuch weiterschreiben, doch kam ihm nichts Rechtes in
den Sinn. Eine Weile las er dann,
vermochte sich aber nicht zu konzentrieren. Rauchend ging er im Zimmer auf und
ab. Dann ging er wieder in den Salon hinunter und las Zeitung. Hin und wieder
lauschte er auf das Radio, das im Hintergrund lief, sah wieder hinab auf seine
Zeitung oder horchte auf das Gespräch zwischen Nigân und Perihan. Aus deren
Worten und den Geräuschen von draußen schloss er, dass der Lodos schon blies.
Schließlich bemühte er sich, seine ganze Aufmerksamkeit der Zeitung zu widmen.
Plötzlich dachte er: »Perihan beobachtet mich!« Ihm war selbst nicht klar,
wieso er darauf kam, aber er wusste, dass Perihan, wenn sie mit Nigân oder auch
sonst jemandem sprach, hin und wieder aus dem Augenwinkel zu ihm
herüberblickte, zu dem Schatten, den er in seinem Sessel warf, als wollte sie
kontrollieren, ob er auch wirklich noch da sei. Refık wusste, wie sehr
Perihan sich darüber freute, dass er seinen Bart abrasiert hatte und wieder ins
Büro ging, doch aus dem Blick, den er nun auf sich ruhen fühlte, spürte er mehr
Besorgnis als Freude heraus. Er faltete die Zeitung zusammen und erwischte
Perihan dabei, wie sie ihn anschaute. Perihan bemühte sich um ein Lächeln. Da
schlug Refık die Zeitung wieder auf, doch mit seiner Konzentration war es
gänzlich dahin. Seine Mutter unterhielt sich nun mit Nermin.
    »Der Wind wird immer stärker!«
    »Ja, das ist schon der Lodos«,
erwiderte Nermin.
    Refık hörte ihnen zu und las
dabei zum wiederholtenmal einen Artikel über Deutschland und Österreich. »Wird Deutschland
gegenüber Österreich nachgeben?« hieß es dort, und draußen blies immer heftiger
der Wind. »Ich werde noch ganz verrückt!« dachte Refık. Er nahm mehrere
Zeitungen an sich und verließ damit

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