Cevdet und seine Soehne
Europa empfangen ließ. Bei dem hörte er hin und wieder
Nachrichten, aber frische Tageszeitungen aus Ankara waren natürlich etwas ganz
anderes: »Erklärung von Ministerpräsident Celâl Bayar: Regierung beschreitet
mit Gesetzen neue Wege … In Hatay haben Frankreich und Syrien …
Türkeibesuch König Faruks … Die Krise in Europa … Österreich hat auf das
deutsche Ultimatum … Stalin erklärt, gegen die Aggressionen …« Er hätte
gern noch weitergelesen, ließ aber die Zeitung sinken. »Was macht Refık?«
Er merkte, wie er sich schon an dessen Anwesenheit gewöhnt hatte. Er hob den
Kopf und sah zu dem Schatten am anderen Ende des Raumes. »Nun gut! Werde ich es
eben einen Monat lang etwas unbequem haben und die kritischen Blicke dieses
glücklichen, aber nachdenklichen Menschen ertragen. Ich kann ja schon mal den
Anfang machen!«
»Jetzt sag doch, was du sonst so
treibst!« forderte er Refık auf.
»Ach, lass mal«, erwiderte dieser hastig.
»Erzähl du lieber vom Leben hier!«
»Vom Leben hier?«
»Na ja, was du so machst, wenn du
nicht im Tunnel arbeitest, und was hier für Leute sind … Wie eben das Leben
hier so ist!«
»Es ist jetzt dunkel, da essen wir
immer und zünden die Gaslampen an. Habe ich dir ja geschrieben. Mit mir
arbeiten zwei Ingenieure zusammen, die ihr Diplom vier Jahre nach uns gemacht
haben. Die spielen oft Karten, Sechsundsechzig und so. Und dann ist da noch
dieser Hacı, von dem ich
dir erzählt habe. Der kocht und wäscht für uns, hält die Baracke sauber, macht
Botengänge. Diesen Winter über sind wir also in dieser riesigen Baracke zu
viert. Zwei Kilometer westlich von hier, in Richtung Kemah, ist eine größere
Baustelle mit vielen Unterkünften, dort haben sie auch einen Generator. Zu dem
deutschen Ingenieur dort gehe ich manchmal auf ein Schwätzchen. Und dann ist
meistens schon Zeit zum Schlafengehen. So vergehen die Abende hier! Die Zeit
verstreicht wahnsinnig langsam. Ich rauche, und manchmal trinken wir auch was.
Ja, so geht es hier zu. Jetzt essen wir dann bald unsere Suppe. Und das hier
ist das Zimmer von Rastignac, von unserem Eroberer! Komm, steh auf, essen wir.
Danach kannst du in Ruhe schlafen!«
26
DER MORGEN DES ERSTEN TAGES
Refık hörte den Holzboden unter Schritten
knarren. Jemand machte die Ofentür auf und warf Holzscheite ein, doch klang es nicht
wie sonst. Er öffnete die Augen und begriff: Er war hier, in der
Baustellenbaracke zwischen Erzincan und Kemah. Die Sonne schien herein, und
draußen sah er schneebedeckte Hügel.
»Ah, du bist wach?« sagte Ömer. »Ich
habe dich doch nicht aufgeweckt, oder?«
»Nein, nein, ich war schon wach!«
Refık streckte sich und gähnte herzhaft wie jemand, der mit seinem Bett
und mit sich selber zufrieden ist. »Scheint wieder alles im Lot zu sein bei mir!«
dachte er und erinnerte sich, was er gerade geträumt hatte. In seinem Traum
schimpften Nigân und Cevdet mit Perihan: »Du hast den Jungen entführt!« Er
selbst stand dabei hinter der Gartenmauer und beobachtete die Szene heimlich
und voller Freude.
»Hast du gut geschlafen?«
»Ja, sehr gut. Ich fühle mich
pudelwohl.« Er streckte sich noch einmal und stand dann ruckartig auf. Das
Zimmer war gar nicht so kalt wie erwartet. Er sah auf die Uhr: halb acht. »Dann
habe ich ja zwölf Stunden geschlafen!« Er wollte gerade zu Ömer sagen, dass er
durchgeschlafen habe, doch fiel ihm ein, dass ihn einmal ein Wolfsgeheul
geweckt hatte.
Beim Anziehen erzählte er Ömer
davon. Ömer erklärte, in der Umgebung seien viele Wölfe unterwegs und es sei
gefährlich, nachts unbewaffnet hinauszugehen. Dann verließ er das Zimmer.
Refık nahm sein Rasierzeug, holte sich aus der kalten Toilette eine Tasse
voll Wasser und stellte sich vor den Spiegel, der in einer Ecke des Zimmers
hing. Er fand sein Gesicht blass und ungesund, aber eher fröhlich. Während er
mit dem Rasierzeug zu Werke ging, das er sich am Tag nach seinem dramatischen
Abgang in Beyoğlu gekauft hatte, kam er sich ziemlich munter und
unternehmend vor. »Gestern war ich ein wenig nervös, aber heute ist alles in
Ordnung!« Er konnte es kaum erwarten, unter den strahlendblauen Himmel zu
treten und sich dort so richtig frei zu fühlen und zu leben und zu tun, was
getan werden musste. Kaum war er fertig, ging er gleich in den großen Raum
hinüber, in dem Ömer ihn am Vortag empfangen hatte.
Auf dem großen Tisch in der Mitte
war für das Frühstück gedeckt. An dem einen Ende saß kauend Ömer und
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