Cevdet und seine Soehne
März
Erst gestern hat sich der Sturm
gelegt. Ich lese viel. Seit über einem Monat bin ich nun von zu Hause fort. Ich
muss einen Brief schreiben oder mich zur Rückkehr entschließen. Warum bin ich eigentlich
hier? Ich hatte gedacht, ein einmonatiger Tapetenwechsel würde mir guttun. In
Istanbul konnte ich mein altes Leben nicht weiterführen, das war klar, doch was
erhoffte ich mir? Ich weiß es selbst nicht recht. Vermutlich dachte ich,
innerhalb eines Monats würde sich alles von selbst einrenken. Jetzt aber weiß
ich, dass das nicht so einfach ist. Ich werde auch weiterhin rastlos und nervös
sein. Zumindest zwei Vorteile hat mein Aufenthalt hier: i. Ich habe Abstand
gewonnen und eine andere Welt kennengelernt. 2. Ich habe hier die Muße und die
Energie gefunden, um mich ganz auf diese Bücher einzulassen.
Dienstag, 22. März
Ich habe nach Hause geschrieben,
dass ich in einem Monat heimkehren werde, und ihnen erklärt, dass ich an ein
paar Projekten arbeite, den ganzen Tag mit Lesen und Nachdenken verbringe und
befürchte, bei einer verfrühten Rückkehr das hier Begonnene nicht zu Ende
führen zu können. Auch an Perihan muss ich schreiben. Es war dumm von mir, dass
ich ihr einen Monat lang gar nicht geschrieben habe. An unserem Streit war ja
ich schuld. Überhaupt war der Streit nur ein Vorwand. Gestern habe ich darüber
mit Ömer gesprochen, und auch er sieht das so und findet, dass ich Perihan
schreiben soll. Wir haben uns noch weiter unterhalten, und Ömer hat mich
gefragt, was ich eigentlich vorhabe. Ich habe ihm gesagt, dass ich so lange
weiterarbeiten will, bis meine Lektüre einen konkreten Nutzen nach sich zieht.
Was kann man tun, um in die Dörfer mehr Fortschritt zu bringen?
26. März
Ich bin erleichtert, weil ich den
Brief an Perihan nun abgeschickt habe. Ich habe ihr geschrieben, dass an all
unseren Konflikten ich schuld bin, dass ich das letzte Jahr über streitsüchtig
und unleidig war und dass mir nun klar ist, wie sehr ich immer nur an mich
gedacht habe. Dann habe ich sie um Verständnis dafür gebeten, dass ich hier
noch eine Weile bleiben möchte. Nun ist mir so leicht ums Herz wie schon lange
nicht mehr. Auch meine Gedanken sind viel freier, oder zumindest kommt es mir
so vor. Ich sehe meine Zukunft jetzt deutlich vor mir. Oder besser gesagt weiß
ich jetzt, dass meine Zukunft in meinen eigenen Händen liegt. Ob mir Gutes oder
Schlechtes widerfährt, ob ich glücklich oder unglücklich werde, ausgeglichen
oder bedrückt, das habe ich alles selbst zu verantworten, soviel ist mir nun
klar. Es gibt keine andere Kraft außer mir, die mein Leben bestimmt. Obwohl ich
jetzt auch weiß, dass ich nicht besonders intelligent bin.
Samstag, 2. April
Heute ist es wieder so sonnig wie am
Tag meiner Ankunft. Da auch Ömer nicht allzuviel zu tun hatte, hat Hacı
uns ein wenig herumgeführt. Wir sind vier, fünf Kilometer
Richtung Erzincan gegangen, bis zum Bahnhof von Alp. Kurz hinter dem Bahnhof
ist ein Gut, auf dem Hacı früher als Verwalter gearbeitet hat. Hacıs Frau, seine hübsche Tochter
und sein ältester Sohn wohnen noch dort. Das Gut und seine Ländereien gehörten
früher einem von Abdülhamit nach Kemah strafversetzten Landrat. Nach dessen Tod
wurde es unter den Erben aufgeteilt. Ein Teil wurde verkauft, ein anderer noch
eine Zeitlang von Hacı weiterverwaltet. Das alte Herrenhaus mit den feinen
Holzverzierungen verfällt. Im Erdgeschoß wohnt noch Hacı mit seiner
Familie. Auf dem Rückweg ist uns ein Tier mit einem dicken, buschigen Schwanz
über den Weg gelaufen, ein Fuchs anscheinend. Bis Hacı anlegen konnte, war
es schon verschwunden. Dieser Hacı ist ein seltsamer Mensch, den ich noch
nicht so recht ergründet habe. Bald können auch die Bauarbeiten im Freien
weitergehen, vor allem an den Brücken. Vorhin habe ich mit Ömer darüber
gesprochen; er befürchtet, den Auftrag nicht rechtzeitig erledigen zu können,
aber die Frist ist doch noch ziemlich lang. Ich bin angenehm müde und gähne die
ganze Zeit. Ich lege mich erst mal hin.
Freitag, 8. April
Wir waren bei Rudolph und haben uns
unterhalten. Diesmal habe ich auch Schach gespielt, und verloren, worüber
Rudolph sich sehr gefreut hat. Er sagt, dass er sich über Ömers und meine
Zukunft viele Sorgen macht. Bin ich denn so naiv?
12. April
Ich habe jetzt das Gefühl, dass aus
meiner Lektüre und meinen Notizen etwas zu machen wäre. Was muss geschehen,
damit sich die türkischen Dörfer entwickeln? Um die Dörfer aus dem
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