Cevdet und seine Soehne
den ich
gesagt habe. Über deine Familie und so. Ganz egal, wie sie sich verhalten,
sollst du wissen, dass ich ihnen Achtung entgegenbringe. Weil sie so reich sind
und du zu ihnen gehörst, nörgele ich manchmal herum, aber denk nur ja nicht,
dass … Weißt du, es gibt da ein paar Sachen, die mir einfach wichtig sind …
Hörst du mir eigentlich zu?«
»Jaja!« Ayşe sah sich
vorsichtig um. An der Ecke war ein Tabakhändler, der auch Zeitungen verkaufte.
Davor hielt nun ein Auto.
»Ich gehe gar nicht nach Trabzon im
Sommer!« stammelte Cezmi. »Ich halte es unter diesen bornierten Leuten nicht
mehr aus! Ich habe Arbeit gefunden, in einem Hotel. Ich werde diesen Sommer …
Hörst du mir zu, Ayşe? Langweile ich dich? Ich werde diesen Sommer deine
…«
»Da ist mein Bruder!« dachte
Ayşe. »Das ist unser Auto, das neue, kirschrote! Wieso habe ich das nicht
gleich gemerkt!« Wie jemand, der ganz entsetzt Zeuge einer Katastrophe wird,
starrte sie das Auto an und den Mann, der daraus ausgestiegen war, ihren
Bruder.
»Da ist mein Bruder!« sagte sie
leise.
»Wer? Der mit der Zeitung in der
Hand?«
Sie waren vielleicht zwanzig
Schritte voneinander entfernt. Ayşe hätte nicht gedacht, dass sie derartig
erschrecken würde. Als sie gemeinsam weitergegangen waren, hatte sie sich
einzureden versucht, dass Cezmi recht habe und ihre Furcht ganz unbegründet
sei.
»Der mit der Zeitung?« wiederholte
Cezmi, und an Ayşes Gesicht las er ab, dass er richtig lag. Neugierig
musterte er den Mann, über den er schon so viele Geschichten gehört hatte, ja
dessen Familienleben er in allen Einzelheiten kannte.
Ayşe ärgerte sich über diese
Neugier. »Jetzt geh doch endlich, los, geh!«
»Warum denn? Ich fürchte mich vor
niemandem. Ich gehe nicht. Ein Mann wie dein Bruder weiß, dass Männer und Frauen
jetzt …«
Osman hatte sie gesehen. Gerade als
er einsteigen wollte, hatte er noch einmal den Kopf gehoben und sie gesehen. Er
verharrte zuerst unschlüssig, ging dann aber am Gouverneurspalast vorbei auf
sie zu. In einer Mischung aus Furcht und Neugier sah Ayşe ihrem Bruder entgegen.
Ein paar Schritte vor Ayşe
blieb er stehen und warf einen kurzen Blick auf Cezmi. Zu Ayşe sagte er:
»Warst du auf dem Heimweg?« Und bevor sie noch antworten konnte, knurrte er:
»Los, steig ein, ich nehm dich mit!« Ayşes verblüfften Ausdruck ignorierte
er. Herablassend musterte er Cezmi. »Bist du mit dem jungen Mann hier
unterwegs?«
»Ja!« antwortete dieser an
Ayşes Stelle. Er war gekränkt, wollte es aber nicht an Achtung fehlen
lassen. In selbstsicherer Manier tat er einen Schritt vor, doch Osman streckte
ihm nicht etwa die Hand entgegen.
»Was Sie da machen, junger Mann …«
setzte Osman an. Dann fiel sein Blick auf den Geigenkasten. Er verzog das
Gesicht, als hätte er etwas sehr Ärgerliches gesehen. »Aha, Sie haben also auch
mit Musik zu tun?«
»Ich heiße Cezmi und bin
Jurastudent.«
»Sie haben meine Schwester hierher
begleitet, aber das ist von jetzt an nicht mehr nötig!« Wieder sah Osman
beinahe angewidert auf den Geigenkasten, als habe er darin den Schuldigen für
diesen peinlichen Wortwechsel ausgemacht. »Ich hole sie nun ab!« Als wollte er
den beiden noch Gelegenheit geben, sich zu verabschieden, blickte er vage zur
Seite, wie um nach einem Bekannten Ausschau zu halten.
Ayşe schaute Cezmi intensiv an,
als wollte sie damit sagen: »Siehst du, daran bist nur du schuld. Was bleibt
mir jetzt übrig?«
Cezmi bemühte sich um ein
selbstbewusstes Auftreten, doch im Grunde war er ziemlich perplex. Seine Blicke
wiederum wollten besagen: »Ich fürchte mich vor niemandem! Das also ist dein
Bruder? Na, wie schlage ich mich?«
Osman fasste Ayşe am Arm.
»Komm, gehen wir!« In einer Weise, die an Cevdets väterliche Haltung erinnerte,
bei Osman aber weit kühler und künstlicher wirkte, strich
er seiner Schwester dann über den Kopf und erkundigte sich, wie es ihr in der
Schule so ergehe. So wandten sie dem Jungen den Rücken zu und gingen unter den
Kastanienbäumen in Richtung Auto.
31
EIN ERWACHEN?
Muhittin saß wieder in jener heruntergekommenen
Kneipe in Beyoğlu, vor sich ein Glas Rakı und ein Schüsselchen
Kichererbsen, und dachte daran, dass er bald ins Freudenhaus, danach ins Kino
und zwei Jahre später in den Tod gehen würde. Der ganze lange Winter war schon
vorbei, man war sogar schon im Mai, doch der Gedichtband, an den Muhittin so
viele Lebenshoffnungen geknüpft hatte, war sang- und klanglos
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