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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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Bei jeder Frage bog er
einen Finger herunter und nahm Muhittins leere Blicke zum Anlass, um die
Antwort jeweils selber zu geben. »An einem Mädchen? Nein! Am Feiern? Nein! An
den Reformen, so wie manche Ihrer Altersgenossen? Auch nicht! An Ihren
Gedichten? Hier werden Sie wohl nicht verneinen, aber wenn alles andere fehlt,
was sind dann Gedichte noch wert? Das meiste andere dürfen Sie meinetwegen
vernachlässigen, aber nicht das eine: dass Sie Türke sind!« Wieder klopfte er
auf die gleiche Stelle.
    Muhittin, den fleischigen Finger im
Blick, dachte: »Was will er eigentlich von mir? Wahrscheinlich, dass ich auf
den rechten Weg komme und so denke wie er … Kaum hat er mich hier gesehen,
habe ich ihm gleich leid getan. So einen armseligen Eindruck mache ich also!«
    »Denken Sie doch mal nach, was das
heißt: ein Türke sein! Als Türke für das Ideal aller Türken kämpfen und dabei
in der Gemeinschaft aufgehen! Sich zusammen mit den Rassegenossen um des
Glückes aller willen selbst vergessen! Sie glauben momentan einzig an Gedichte
und an sich selbst. Und was für eine Art von Gedichten Sie mögen, habe ich aus Ihrem Buch
herausgelesen. Dieses hässliche europäische Zeug, was? Baudelaire und so.
Dieser verkommene, haschischrauchende Franzose … Dabei sind Sie doch Türke!
Wissen Sie eigentlich, was die Franzosen unseren Rassegenossen in Hatay antun?«
Mit einemmal regte er sich so auf, dass er fast schrie: »Sie unterdrücken sie,
und zwar auf schamloseste Weise! Ach, mein türkisches Volk, wann wirst du
endlich einmal wach?«
    Muhittin begann sich zu sorgen. Er
hatte eigentlich vorgehabt, dem Mann zu widersprechen, aber das war jetzt kaum
noch möglich. So begnügte er sich damit, betreten dreinzuschauen. Er hätte
gerne zumindest etwas Beschwichtigendes gesagt, wollte aber nicht den Eindruck
erwecken, er mache sich über den Mann lustig.
    So trank Muhittin sein zweites Glas
Rakı leer und sagte leise: »Sie mögen schon recht haben, um mich steht es
nicht besonders gut. Aber was soll ich machen, ich bin eben so!«
    Mahir Altaylı gab keine
Antwort. Anscheinend musste er sich selbst erst einmal beruhigen.
    Muhittin dachte: »Er glaubt an
etwas, und wenn einer an was glaubt, und mag es noch so ein Blödsinn sein, dann
muss jemand wie ich ihm banal vorkommen.« Dennoch erschien dieses
glaubenseifrige Wüten ihm fragwürdig. »Warum regt er sich eigentlich so auf?«
Muhittin versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was in Hatay wirklich
vorgefallen war. »Hm, es sollte Wahlen dort geben, und während der
vorausgehenden Volkszählung ist es zu Zwischenfällen gekommen, und wenn stimmt,
was in der Zeitung steht, werden die Türken dort unterdrückt. Aber was geht
mich das an?« Er kam sich selber schäbig vor bei diesem Gedanken. Ihm kam das
Freudenhaus in den Sinn, die rote Glühbirne, jene Frau. Der Wert, den er diesen
Dingen beimaß, und der Kult, den er stets mit seiner Einsamkeit und seinem
Unglücklichsein trieb, all das mutete ihn plötzlich oberflächlich und armselig
an. Ihm fiel wieder einiges ein, was in den Zeitungen gestanden hatte.
    »Da sollen furchtbare Sachen
passiert sein«, sagte er.
    »Ja, Franzosen haben ein türkisches
Kaffeehaus beschossen und dann einen türkischen Gendarmen getötet. Und aus
Beirut sind lastwagenweise Armenier herbeigeschafft worden.« Mahir Altaylı
sprach nun in ruhigem Ton. »Es muss etwas
geschehen. So etwas in der Art wie vor zwei Jahren in Istanbul.«
    Muhittin erinnerte sich. Es hatte
damals eine riesige Demonstration gegeben. Vor allem Studenten waren von Beyazıt nach Taksim
marschiert, und stellenweise war es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei
gekommen.
    »Ob die Regierung so etwas zulässt?«
fragte Muhittin und bestellte noch einen Rakı.
    »Ach, wenn es nach der Regierung
geht!« rief Mahir Altaylı verächtlich aus. »Die wollen sich in der Sache
mit den Franzosen verständigen. Sich mit unseren Feinden an einen Tisch setzen!
Eine friedliche Lösung! Wer an so etwas glaubt, ist entweder dumm oder ein
Verräter!« Mit großer Geste hatte er das gesagt. Und flüsternd fügte er hinzu:
»Atatürk soll ja schon nach Mersin unterwegs sein. Dabei kommt aber nichts
heraus. Ihnen kann ich das ja ruhig sagen, aber ansonsten nicht gerade jedem!«
    Muhittin fand diesen
Vertrauensbeweis eher lächerlich. Er dachte: »Was soll mich das alles angehen?
Was habe ich davon, wenn alle Türken unter einer Fahne versammelt sind?« Er
wollte nun dem Mann, für den er eine

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