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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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untergegangen.
»Als hätte ich einen Kieselstein in den Ozean geworfen!« dachte er und kam sich
gleich wieder ganz poetisch vor. Und würde in zwei Jahren nicht auch sein Leben
wie ein Kieselstein im Ozean versinken, ohne je etwas bewirkt zu haben? Er
wollte wenigstens darin etwas Heldenhaftes sehen, dass er jenem Gedanken des
Verschwindens und Vergessenwerdens, den andere – so seine Überzeugung – noch
nicht einmal kannten, schon als junger Mensch tapfer die Stirn geboten hatte;
da merkte er, dass an einem Tisch gegenüber ein alter, nein, ein etwa
fünfundvierzig- bis fünfzigjähriger Mann ihn immer wieder mit
freundschaftlichen Blicken bedachte.
    Für viel älter hatte er den Mann
zunächst deshalb gehalten, weil jenem ein so versonnenes, von vielerlei
Erfahrung zeugendes Lächeln zu eigen war, wie man es ansonsten nur bei älteren
Menschen antrifft. Dann aber wandelte sich der Blick des Mannes und sagte nun:
»Dich kenne ich! Und zwar sehr gut! Ich lese in deiner Seele, und du tust mir
leid!« Von einem derart entschlossenen und durchdringenden Blick war Muhittin
noch selten belästigt worden. Noch dazu wanderte dieser Blick nun schon zum
drittenmal ungeniert über ihn hin weg, als wollte er sich seiner so richtig
vergewissern. Da setzte Muhittin das harte, feindselige Gesicht auf, mit dem er
sich in jener Kneipe Kontakte vom Leibe hielt, doch als der Mann daraufhin
wieder sein anfängliches versonnenes Lächeln aufsetzte, musste Muhittin
unwillkürlich zurücklächeln. Da stand der Mann auf, als wollte er beweisen, wie
jung und elastisch sein hochgewachsener, schlanker Körper war, und mit
federleichten Schritten trat er an Muhittins Tisch und setzte sich, nunmehr
ganz ernst.
    »Sie sind doch Muhittin Nişancı, nicht wahr? Ich
kenne Sie!«
    Muhittin kramte hastig in seinem
Gedächtnis wie in den Taschen einer Weste, aber das Gesicht vor ihm ließ sich
mit nichts in Verbindung bringen und verschwamm in einer rakigeschwängerten
Bilderflut.
    »Sie erkennen mich natürlich nicht,
aber ich kenne Sie trotzdem, und zwar von Ihrem Vater her. Und einmal habe ich
Sie im Verlag von Halit Yaşar
gesehen. Sie gingen gerade hinaus, und Halit Yaşar hat mir danach von Ihnen erzählt und mir
auch ein Exemplar Ihres Buches gegeben. Jaja, ich habe Ihr Buch gelesen! Aber
ich habe mich ja noch nicht vorgestellt: Mahir Altaylı.« Freundlich streckte er ihm die Hand
entgegen.
    »Freut mich!« sagte Muhittin und
drückte die große, harte Hand seines Gegenübers.
    »Ich habe ja gesagt, dass ich Ihren
Vater kannte, das war bei der Siebten Armee, in Palästina. Ihren Familiennamen
Nişancı tragen Sie wahrlich zu Recht!«
    »Nişancıoğlu, ›Sohn eines
Schützen‹, wäre aber zutreffender«, wandte Muhittin ein und rührte damit an
eine störende Kleinigkeit, die ihm unsinnigerweise immer wieder aufstieß.
    »Ach was! Es zählt doch nur, dass
Sie der Sohn eines türkischen Soldaten sind und dass Ihnen das auch bewusst ist
… Jaja, ich weiß schon, was Sie meinen!« Er runzelte die Stirn und wies mit
ausladender Geste auf die Kneipenszenerie. »Ich war schon seit Jahren an keinem
solchen Ort mehr, seit Jahren, sage ich Ihnen! Und was ich hier sehe, all diese
Menschen, das macht mich sehr traurig. Ich erkläre es Ihnen gerne, möchte Sie
aber nicht langweilen!«
    »Aber ich bitte Sie!« sagte
Muhittin. Dabei langweilte er sich jetzt schon. Er machte sich bereits darauf
gefasst, es mit einem Oberlehrer und gnadenlosen Moralisten zu tun zu haben. Dennoch
weckte irgend etwas an den Worten des Mannes seine Neugier. Und noch dazu war
er einer der zweihundertfünfzig Menschen, die seinen Gedichtband gelesen
hatten.
    »Dann sage ich nur schnell einem
Freund da drüben Bescheid!« sagte Mahir Altaylı. Er ging zu seinem
vorherigen Tisch, sprach dort kurz mit jemandem und kam dann zurück. »Die haben
mich fast mit Gewalt hierhergeschleppt. Ich war auf dem Nachhauseweg von der
Schule. Weil meine Gesundheit nicht mehr mitmachte, bin ich aus der Armee
ausgeschieden und arbeite jetzt als Literaturlehrer im Kasımpaşa-Gymnasium. Und Sie sind Ingenieur,
nicht wahr?« Er lächelte wieder mit dieser allwissenden Miene.
    »Ja, ich bin Ingenieur«, erwiderte
Muhittin und fragte sich, was der Mann wohl noch alles über ihn wusste. Dann
fiel ihm aber ein, dass sein Beruf auf der Rückseite seines Gedichtbandes
stand.
    »Tja, diese Leute hier tun mir leid.
Halten Sie mich bitte nicht für kleinkariert; als ich jung war, habe ich selber
Alkohol

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