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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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getrunken. Aber diese seelenlose Atmosphäre hier mit anzusehen,
bedrückt mich als Türken doch sehr!«
    »Als Türken!« dachte Muhittin. Ihm
schwante schon etwas, und am liebsten wäre er auf der Stelle aufgestanden und
in das Zimmer mit dem roten Licht gegangen.
    »Und dann habe ich Sie hier gesehen
und habe Sie gleich erkannt! Da habe ich mir gedacht, so ein strammer junger
Mann, und doch so unglücklich! Lachen Sie nur, bitte schön, lachen Sie, tun Sie
sich keinen Zwang an! Aber ich sehe doch, dass Sie unglücklich sind!«
    Unangenehm berührt von dieser
selbstgewissen Art, wollte Muhittin schon »Nein!« sagen, aber dann ließ er es
bleiben.
    »Sehen Sie, ich wusste, dass Sie
unglücklich sind!« sagte Mahir Altaylı lächelnd. Dann merkte er wohl, dass
solche Worte eigentlich kein Lächeln rechtfertigten, und setzte eine betrübte
Miene auf. Beinahe weinerlich sagte er: »Warum aber soll es einem jungen
Menschen so ergehen?« Er wirkte nicht einmal lächerlich dabei.
    Muhittin begann sich zu sorgen. Wenn
er es zuließ, dass der Mann ihm eine Moralpredigt hielt, dann würde er dabei
eine gehörige Por tion Selbstvertrauen einbüßen. Er wollte einen Termin
vorschützen oder sonst eine Lüge auftischen, um das Lokal verlassen zu können,
doch eine unerklärliche Mischung aus Trägheit und Neugier hielt ihn davon ab.
    »Ich habe Ihre Gedichte gelesen, und
als ich mich an Ihr Gesicht bei dem Verleger erinnert habe, da wusste ich, dass
Sie unglücklich sind. Ein talentierter, aber unglücklicher Dichter … Auf den
ersten Blick haben Sie ja alles, was man braucht, um gute Gedichte zu
schreiben, aber eines fehlt Ihnen! Ein Ideal nämlich! Sie haben kein Ideal in
Ihrem Leben!«
    »Ein Ideal?« dachte Muhittin. Was
fiel ihm zu diesem Wort ein? Der Publizist Ziya Gökalp mit seinen Theorien … Ein
paar alte nationalistische Gedichte … Die Schulbücher seines Neffen …
Artikel von Journalisten, die zu dumm waren, ihre Heucheleien zu kaschieren …
Lächerliches Zeug.
    »Haben Sie nie darüber nachgedacht,
dass Sie Türke sind?« fragte Mahir Altaylı.
    Muhittin musste schmunzeln. Dann
aber dachte er zum erstenmal, dass er dem Mann vielleicht unrecht tat. Er rang
nach einer versöhnlichen Antwort, aber vergebens. So sagte er einfach: »Ich
trinke noch ein Glas!«
    Er rief den Kellner. Der war es
gewohnt, dass Muhittin stets nur ein Glas Rakı trank und dazu seine
Kichererbsen knabberte, aber er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken.
    »Also, haben Sie schon mal darüber
nachgedacht, dass Sie Türke sind?« wiederholte der Mann und sah Muhittin dabei so
ernsthaft an, als dächte er: »Pass gut auf, was du jetzt sagst, denn davon
hängt es ab, ob ich dich so wie vorhin lobe oder auf dich herabschaue!«
    Muhittin schwankte zwischen einer
Antwort, die dem Mann ein für allemal das Maul gestopft hätte, und einer milden
Version, die einen Eklat verhinderte, und schließlich brachte er nichts weiter
heraus als ein: »Nachgedacht schon, aber wozu soll das führen?«
    Mahir Altaylı sah betrübt, aber
verständnisvoll drein. »Ich dachte mir schon, dass Sie so denken!« Er setzte
wieder sein väterliches Lächeln auf. »Aber gerade darin liegt ja begründet,
warum Sie so unglücklich sind: Weil Sie nie darüber nachdenken, dass Sie Türke
sind. Sie sind aber einer, ich kannte ja
Ihren Vater. Und das ist etwas Wichtiges. Nämlich genau das Ideal, das Sie
brauchen!« Dabei tupfte er mit dem Zeigefinger auf einen bestimmten Punkt des
Tisches.
    Muhittin sah dorthin, wo der
fleischige Finger des Mannes so insistierend auf und ab fuhr. Dann blickte er
ihm in sein joviales Gesicht und begriff, dass er ihm nicht böse sein, sondern
ihn höchstens geringschätzen konnte. Doch selbst diese Geringschätzung wog mit
einemmal nicht mehr soviel im Vergleich zu der Sympathie, die er für einen Mann
empfand, der seine Gedicht gelesen hatte und spontan an seinen Tisch gekommen
war, um ihn, selbst auf die Gefahr hin, lächerlich zu wirken, von etwas zu
überzeugen. »Er ist bestimmt ein Panturkist!« dachte er, hin und her gerissen
zwischen dem Spott, mit dem er üblicherweise diese Bewegung und überhaupt jeglichen
Nationalismus überzog, und der plötzlichen Zuneigung für den Mann.
    »Da sitzen Sie also hier, führen ein
unglückliches Leben und vergiften sich noch dazu mit Alkohol! Weil Ihnen eben
ein Ideal fehlt! Woran hängen Sie denn im Leben? An der Religion? Nein! An
Ihrer Familie! Nein! An der Arbeit als Ingenieur! Nein!«

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