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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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Cezmi nach.
    »Mein Bruder und meine Mutter wollen
mich in die Schweiz schicken!«
    »Und, willst du dahin?«
    »Ich weiß nicht!«
    Da fing Cezmi wieder mit seiner Fragerei
an: Was ihr Bruder sich da vorstelle, was die Absicht ihrer Mutter sei, was sie
in der Schweiz genau solle, worüber bei ihr zu Hause sonst noch gesprochen
werde und ob es Neues von ihrem Bruder Refık gebe. Sie antwortete auf
alles nur so knapp wie möglich. Das einzige, was sie dem Jungen vorwerfen
konnte, war seine unstillbare Neugier auf alles, was sich in der Familie Işikçı so tat. Die
Details, die er erfuhr, hörte er sich mit eifriger, manchmal auch angewiderter
Miene an, seufzte manchmal, als hätte er ein unerreichbares Paradies vor Augen,
und begann dann zu räsonieren und zu kritisieren. Dabei setzte er immer an zwei
Punkten an: Entweder strich er heraus, was an dem Gebaren der Familie sich
nicht mit dem Verhalten von Menschen in zivilisierten Ländern vereinbaren ließ,
oder aber er wies darauf hin, wie wenig doch das Leben ihrer Familie in all
seiner Wohlhabenheit mit dem Leben der großen Masse der Türken zu tun habe.
Ayşe bemühte sich dann immer redlich, ihren verstorbenen Vater, ihre Brüder
und sogar ihre Mutter als im Grunde genommen doch gute Menschen darzustellen.
    Sie gingen auf die Harbiyekaserne
zu. Aus purem Widerspruchsgeist sagte Cezmi: »Ich behaupte ja auch gar nicht,
dass sie schlechte Menschen sind! Ich wundere mich lediglich über so manche
ihrer Verhaltensweisen, und ich verstehe nicht, warum sie sich die
Errungenschaften der modernen Zivilisation nicht resoluter zu eigen machen. Bei
uns in Trabzon gibt es zum Beispiel einen Hacı İlyas Efendi, einen reichen, bigotten Händler und
Wucherer. Dass der gegen alle Reformen ist, kann ich ja noch begreifen. Aber
deine Familie? Ich sage nicht, dass deine Familie sich gegen die Reformen
sperrt, sie begrüßen ja alles mögliche daran. Aber ich sehe auch, wie skeptisch
sie oft sind. An Enthusiasmus fehlt es ihnen. Dabei sollten doch die in der
Stadt lebenden Reichen, die Europa kennen, also die guten Reichen, verstehst du
mich, die sollten doch ganz und gar für die Reformen sein. Bei deiner Familie
ist das aber nicht der Fall. Das gemeine Volk in seiner Unbildung hat von
nichts eine Ahnung, und wer, Ayşe, wer soll ihm dann zeigen, was diese
Reformen für einen Fortschritt bedeuten? Etwa immer nur die Beamten oder Leute
wie mein armer Vater, über dessen Eifer sich in Trabzon alle lustig machen?
Oder etwa ich, über den sie lachen im Wohnheim, weil ich mich für Musik
interessiere und mit diesem komischen Kasten herumlaufe? Noch dazu wollen jetzt
die Beamten auch schon so werden wie diese primitiven Neureichen. Was meinst du
zu alledem?« Er wandte sein vor lauter Aufregung rotes, verschwitztes Gesicht
Ayşe zu. »Du verspottest mich doch auch, wenn du sagst, ich soll den
Trabzonern das Baden im Meer beibringen. Wenn ich dir erzähle, dass die Leute
dort nicht im Meer baden, dann meinst du gleich, ich hätte was gegen Reiche.
Das stimmt aber gar nicht! Ich habe nur etwas dagegen, wenn Reiche taktlos und
ungebildet sind und sich über so etwas keine Gedanken machen!«
    »Dann hältst du meine Familie also
für taktlos und ungebildet!« konterte Ayşe, doch sie glaubte selbst nicht,
was sie da sagte.
    »Nein, versteh mich nicht falsch!
Damit meine ich doch nicht deine Familie. Ich … Ich verstehe nur manche
Reaktionen deiner Familie nicht. Einerseits schicken sie dich zum Beispiel nach
Europa, aber andererseits willst du nicht, dass ich dich bis nach Hause
begleite …« Er sah auf, als ob er nun irgend etwas erwartete.
    Sie waren vor der Harbiyekaserne
angekommen, an der die Straße sich gabelte. Ayşe blickte den Jungen
besorgt an und sah den ganzen Kummer in seinem Gesicht. Diesmal würde sie
schlechterdings nicht verhindern können, dass er bis nach
Nişantaşı mitkam. Und als wäre dies nicht der Ort, an dem sie
sich üblicherweise trennten, gingen sie einfach gemeinsam weiter. Vom
Pferdestall der Kaserne und den Wellblechtoiletten mitten auf der
Straße ging ein starker Urin- und Mistgeruch aus, der sich mit dem Lindenduft
vermischte.
    »Danke!« sagte Cezmi plötzlich,
fragte sich aber gleich danach, ob das nicht unpassend war. »Du bist mir doch
nicht böse?« setzte er leise hinzu. Ihm war anzusehen, dass er triumphierte.
    Ayşe durchfuhr wieder ein
wohliger Schauer, doch erwiderte sie nur: »Warum sollte ich dir böse sein?«
    »Wegen all dem Blödsinn,

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