Cevdet und seine Soehne
gewisse Sympathie empfand, endlich frank
und frei sagen, was er von der Sache hielt: »Ich glaube an das alles nicht!
Warum soll es so wichtig sein, dass alle Türken zusammen sind? Ich halte nichts
von Panturkismus, von Rassismus und Nationalismus.«
»Was bilden Sie sich überhaupt ein?«
schrie der Mann da los. »Was fällt Ihnen ein, über unsere Bewegung
herzuziehen?«
Muhittin war ganz verblüfft. Er
blickte sich um, doch niemand schien etwas bemerkt zu haben. Es herrschte in
der Kneipe die ewig gleiche ranzig-verschlafene Atmosphäre.
»Wie kommen Sie dazu, den türkischen
Nationalismus für falsch zu halten? Was gibt ihnen eigentlich den Mut zu so
einer Aussage? Der Alkohol? Ihre verrottete Seele? Ihr halt- und wurzelloses
armseliges Leben? Ich muss schon bitten, kommen Sie zu sich! Denken Sie mal
nach über sich! Denken Sie nach, wer Sie sind und was Sie bisher geleistet
haben! Wo Sie doch alles verabscheuen, und nicht zuletzt sich selbst! Sie sind
ein Fremder in dieser Gesellschaft. Und was heißt Fremder, ein Feind dieser
Gesellschaft sind Sie! Sie sollten sich schä men für den falschen Stolz, der aus
Ihren Gedichten und Ihrem ganzen Wesen spricht. Was haben Sie denn geleistet,
um sich soviel einzubilden? Nichts und wieder nichts! Dabei sind Sie talentiert
und intelligent, das weiß ich, ich habe mich nicht umsonst an Ihren Tisch
gesetzt. Es ist schade um Sie, richtig schade. Und schade um unser Volk, nicht
wahr? Ich habe Ihren Vater gekannt. Ist es nicht schade? Sie verstehen mich
doch?«
Muhittin fühlte sich, als hätte er
eine Vase zerbrochen oder sonst eine Dummheit begangen. »Stimmt, ich denke eigentlich
nur an mich selbst!« dachte er. Er merkte aber auch, dass er mehr auf das
kleine Lob ansprach, das der Mann über sein Talent und seine Intelligenz
geäußert hatte. Als das Gesicht Mahir Altaylıs wieder von jenem
erstaunlichen väterlichen Lächeln erleuchtet wurde, kam in Muhittin der Wunsch
auf, dem Mann in voller Unschuld zu erscheinen.
»Sie sagen mir das alles, aber
glauben Sie nur ja nicht, ich sei mit meinem Zustand selber zufrieden. Das bin
ich überhaupt nicht. Aber ich finde eben nichts, an das ich mich halten könnte,
um mich aus dieser unangenehmen und zugegebenermaßen beschämenden Lage zu
befreien.«
»Na, der Panturkismus! Die Hingabe
an das eigene Volk! Die großtürkische Sache!« Er klopfte wieder auf den Tisch
und schüttelte dann den Kopf, voller Unverständnis darüber, wie dieser junge
Mensch so daherreden konnte und nicht einfach von dem Ast, den man ihm
hinhielt, die rettende Frucht pflückte.
Muhittin dachte: »Ich bin doch kein
schlechter Mensch! Wenn ich das wäre, dann hätte ich doch nicht beschlossen,
mich umzubringen. Es ist nur so, dass ich einzig und allein etwas auf meine
Intelligenz gebe; das macht wahrscheinlich keinen guten Eindruck. Ich bin also,
wie ich bin, weil ich soviel denke. Und weil ich das tue, kann ich auch nicht
an diesen Panturkismus glauben. Dabei würde ich das ganz gerne können. Ob ich
dem Mann wohl sagen soll, dass ich mich mit Dreißig umbringen will, wenn ich
bis dahin kein guter Dichter bin?«
»Ich verstehe Sie ja«, sagte Mahir
Altaylı. Seine Blicke besagten wieder: »Ich lese in deiner Seele und
verstehe dich!« Er fuhr fort: »Doch, ich verstehe Sie! Bevor Sie glauben
können, möchten Sie erst nachdenken und verstehen. Und weil Sie das so
handhaben, können Sie eben nicht glauben. So kommen Sie
aber aus Ihrer Misere nicht heraus. Überlassen Sie sich erst mal Ihren
Gefühlen! Glauben Sie zuerst, begeistern Sie sich! Und benutzen Sie erst dann
Ihren Verstand. Immer nur einzig und allein zu denken, macht den Menschen
unglücklich. Wer in der Türkei nur immer nachdenkt, der schließt sich aus der
Gesellschaft aus, das wissen Sie genausogut wie ich. Wer hier denkt, bleibt
einsam. Zu denken, ohne zu fühlen, gilt hierzulande als abartig. Und wie wollen
Sie auch alles nur mit dem Verstand begreifen? Uns ist nun mal nicht nur dieser
gegeben, sondern auch Gefühle! Wenn Sie die türkische Fahne sehen oder
erfahren, was in Hatay geschieht, werden Sie da gar nicht aufgeregt? Ein
bisschen würde ja schon genügen! Fiebern Sie ein wenig mit, glauben Sie an
etwas, schließen Sie sich der Gemeinschaft an, und lassen Sie den Verstand ein
wenig ruhen! Dann werden Sie glücklich sein …«
»Das weiß ich ja!« sagte Muhittin
resigniert. Er erwartete aber auch, dass dieser Mann, der ihm den Weg der
Rettung aufzeigte, den dafür nötigen
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