Cevdet und seine Soehne
Eifer in ihm weckte.
»Wenn Sie das wissen, worauf warten
Sie dann noch? Wenn Sie kapiert haben, dass man nicht alles mit dem Verstand zu
begreifen braucht, dann hält Sie doch nichts mehr zurück! Horchen Sie einfach
auf die Stimme Ihres Herzens! Was sagt dieses Herz Ihnen? Es sagt Ihnen
zweifellos: ›Du bist schuld an dem Leben, das du bisher führst. Und du bist
unglücklich, weil du nicht auf mich hörst. Ich möchte, dass du für die anderen
Türken kämpfst!‹ Hören Sie auf diese Stimme! Ihr Herz sagt Ihnen auch, wer
Ihre Feinde sind. Nämlich alle anderen Völker. Heute sind es die Juden, die
Franzosen, die Araber, morgen werden es andere sein, Freimaurer, Kommunisten,
alle in den Staat einsickernden fremden Elemente, alle Ausländer, gegen die Ihr
Vater einst gekämpft hat.« Er lächelte wieder so sanft, als hätte er nicht
Feinde aufgezählt, sondern lauter Freunde.
Muhittin dachte: »Ob ich das wohl
kann? Ein Panturkist werden?« Er ließ sich Mahir Altaylıs Worte noch
einmal durch den Kopf gehen. Aber es waren ja nicht die Worte an sich, die ihn
so beeindruckt hatten, ihm imponierte vor allem die Haltung des Mannes, sein
Selbstvertrauen, die mal zürnende und dann wieder ganz sanfte, lächelnde Miene;
von alledem ging eine wunderliche und auf den er sten Blick kaum durchschaubare
Harmonie aus, wie er sie bei anderen noch kaum erlebt hatte. Und die Triebfeder
all dessen war zweifellos der Glaube an den Panturkismus. Wie ein präzises
Uhrwerk legte Mahir Altaylı Zorn an den Tag, wenn Zorn angebracht war, und
Einfühlungsgabe, wenn eher diese am Platze war, und dennoch wirkte er nicht
mechanisch und seelenlos wie eine Uhr, sondern menschlicher als alle anderen
Geschöpfe in der Kneipe. »Ich will auch so werden wie er!« dachte Muhittin,
aber er wusste nicht, wie das anzufangen war. Er fragte sich gerade, wie er
Mahir Altaylı darum bitten sollte, ihm das näher zu erläutern, als dieser
plötzlich aufstand.
»Gehen Sie?«
»Ja. Es besudelt einen, länger an so
einem Ort zu verweilen!«
»Warten Sie, ich gehe vielleicht auch
gleich. Möchten Sie mir noch was erzählen?«
»Was ich zu sagen habe, habe ich
gesagt, und meine Pflicht ist somit getan, mein Junge!« Dabei lächelte er
wieder freundlich. »Alles Weitere liegt an Ihnen. Wenn Sie zu mir wollen, dann
kommen Sie in mein Gymnasium. Oder an einem Dienstag oder Donnerstag zu der
Zeitschrift Ötüken.« Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte
sie Muhittin. Dann drückte er ihm fest die Hand und sagte zum Abschied noch
einmal: »Jetzt liegt es an Ihnen!« Er nickte dabei und sah Muhittin
eindringlich an, als dächte er: »Und dann werde ich dich entweder loben oder
verachten!« Dann ging er eilig hinaus, wie um seinen feinen Körper nicht
länger diesem Schmutz auszusetzen.
Muhittin sah sich die Visitenkarte
an: Mahir Altaylı,
Kaszmpaşa-Gymnasium, Literaturlehrer, Kemeraltı-Straße 14, Vezneciler. Er fand die Karte
nicht lächerlich.
32
KAUFMANNSSORGEN
Als die Gartenglocke klingelte, sah Osman mechanisch auf
die Uhr: Erst Viertel nach sechs. Erfreut stellt er fest, dass er früher nach
Hause gekommen war als erwartet. Eilig durchquerte er den Garten. Wie immer,
wenn er unbemerkt eintreten und auf die Familie einen kleinen Überfall verüben
wollte, sperrte er die Haustür selber auf. Drinnen warf er einen kurzen Blick
in den Spiegel, ging die Stufen zum Salon hinauf und merkte, wie still es im
Haus war. Nur das Ticken der Uhr war zu hören. Der Salon war leer, also mussten
sie wohl draußen im Garten Tee trinken. Da sah er auch schon Emine aus dem
Garten hereinkommen.
»Ah, Sie sind schon da, gnädiger
Herr?« sagte sie. Und mit finsterer Miene: »Die sind im Garten. Es sind Gäste
da.« Als wollte sie anzeigen, dass Gäste für sie nichts anderes bedeutete als
mehr Geschirr und mehr Mühe, wies sie mit dem Kopf auf das Tablett, das sie
trug: »Die Damen Leyla und Dildade sind zu Besuch!«
Osman nickte nur und ging die Treppe
hinauf. Als er im ersten Stock auf dem Tischchen unter der Wanduhr die beim
Tabakhändler erstandenen Zeitungen ablegte, sah er dort zwei Briefe liegen.
Beim ersten sah er gleich an der Handschrift, dass er von Refık stammte.
Auf dem zweiten war in einer Ecke der Absender vermerkt. Osman verzog das
Gesicht: Es war ein Brief von Ziya. Er beschloss, die Briefe erst später
zusammen mit den Zeitungen zu lesen, und ging ins Schlafzimmer. Er zog das
Jackett aus und schielte dabei zu den im Garten sitzenden
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