Cevdet und seine Soehne
die Gäste, die an einem der Fenstertische saßen: Der
beleibte Herr war Galip Paşa, der schlanke bebrillte Mann in der Mitte ein
Dolmetscher und der mit dem blassen Gesicht Monsieur Huguenin, der Direktor der
Anatolischen Eisenbahn. Cevdet versuchte sich das alles sofort einzuprägen.
Dann sprachen sie über dieses und jenes, und Fuat berichtete von seinen
Geschäften. Sie erörterten auch ihre gemeinsamen Pläne, und zwar in einem Ton,
als redeten sie von einer angenehmen Erinnerung. Dann brachte der Kellner den
ersten Gang. Fuat wurde ganz aufgekratzt und ging in allen Details auf sein
Essen ein. Er erzählte von der heißgeliebten Fleischpastete, auf die sich seine
Mutter so gut verstehe, und versuchte sich an deren Zubereitung zu erinnern.
Zwar hatte er gegenüber Cevdet einen dozierenden Ton am Leibe, doch war bei ihm
alles gutgemeint. Nach einer Weile aber runzelte er die Stirn.
»Was bist du denn so trübsinnig
heute?«
»Ach, mein Bruder ist schwerkrank.«
»Tatsächlich? Was hat er denn?«
»Tuberkulose. Es geht ihm ganz
schlecht. Er kann jeden Tag sterben.«
»Das tut mir aber leid. Dein Bruder
gehört doch zu denen, oder? Du hast ja gar nicht gesagt, dass er aus Paris
zurück ist! Na ja. Es ist natürlich traurig, dass er krank ist, aber wenn er zu
denen gehört, solltest du stolz auf ihn sein!«
Cevdet hatte davon nie etwas gesagt.
Zweifelnd sah er seinen Freund an.
»Du brauchst doch keine Angst zu
haben«, beruhigte ihn Fuat. »Fürchtest du dich etwa vor mir? Es weiß doch jeder
Bescheid, der ein bisschen denken kann. Er ist nach Paris und dort zehn Jahre
geblieben, und studiert hat er doch Medizin, an der Militärhochschule? Dann hat
er auch noch dieses Zornige an sich … Und bei alledem soll er kein Jungtürke
werden? Du solltest wirklich lernen, stolz auf ihn zu sein!«
»Er ist sehr krank, und ich habe
Angst um ihn!« erwiderte Cevdet in klagendem Ton. Die Worte seines Freundes
verwirrten ihn.
»Anstatt ihn zu bedauern, solltest
du Verständnis für ihn aufbringen!«
»Ich verstehe ihn doch! Gerade heute
habe ich mir gedacht: Ich verstehe ihn, aber ich kann es ihm nicht zeigen!«
»Tja, weil dein Leben dafür zu
ruhelos ist! Dabei könntet ihr euch wunderbar verstehen, wenn ihr nur ein
bisschen offener und nachsichtiger wärt. Ihr ergänzt euch nämlich! Aber ich
merke schon, dass du mir nicht folgen kannst. Pass auf! Was wollen dein Bruder
und seine Gesinnungsgenossen? Dass die Verfassung wieder in Kraft tritt, dass
das Parlament eröffnet wird, dass Schluss ist mit dem Absolutismus und wir
Freiheit bekommen und dass, wenn nötig, Sultan Abdülhamit gestürzt wird. Vor
alledem schreckst du zurück! Und warum? Weil du darin unbegreifliche,
schreckliche Dinge siehst! Weil du den Nutzen all dessen nicht
erkennst! Und weil du Angst vor Scherereien und vor Spitzeln hast!«
»Ich habe mich noch nie um Politik
gekümmert und sehe nicht ein, was sie mir als Kaufmann bringen soll!«
»Na schön, das verstehe ich ja, aber
hör mir mal zu: Wenn die Freiheit kommt, von der diese Leute reden, hast du
dann irgendeinen Schaden davon?« Ganz aufgeregt, aber auch ein bisschen
sorgenvoll setzte er hinzu: »Hast du nicht! Nicht den geringsten!«
»Aber einen Nutzen sehe ich auch
nicht!« wiederholte Cevdet nur.
»Wenn du so denkst, machst du dir
die Sache zu leicht. Ist das Leben etwa so? Ganz und gar nicht! Du sagst, dass
du deinen Bruder verstehst, aber das tust du mitnichten. Was will er denn?
Freiheit, Selbstbestimmung und so weiter. Denk einfach darüber einmal nach. Ich
sage nicht: Tu etwas, sondern nur, dass du nachdenken sollst. Dann wirst du so
einiges begreifen. Dass nämlich gar nichts Schreckliches an der Sache ist.
Wofür leben wir eigentlich? Nur um Handel zu treiben und Geld zu verdienen?
Ganz und gar nicht! Wir möchten eine Familie, ein Heim, Kinder … Dafür
arbeiten wir! Aber wo keine Freiheit ist, sind wir auch darin Beschränkungen
unterworfen. Was soll denn schlecht daran sein, wenn alles so frei ist wie
drüben in Europa? Unsere Frauen sind wie Sklavinnen, und wer im Ramadan nicht
fastet, wird vor ein Gericht gezerrt … Und weißt du, was das Schlimmste ist?
Dass wegen dieser veralteten Regeln und Traditionen nicht Muslime wie du und
ich den Handel dominieren, sondern Armenier, Juden und Griechen! Und ich bin ja
nicht einmal ein richtiger Muslim! Du stehst also ganz allein da!«
»Ja, das stimmt schon. Aber das
bedeutet noch lange nicht, dass ich mich mit solchen Sachen
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