Cevdet und seine Soehne
Gewalt irgendwo angesiedelt. Und was ist passiert?
Sofort ist es mit der Landwirtschaft aufwärtsgegangen! Und mit der ganzen
Gegend! Dort wird jetzt die Baumwolle angebaut, die die ganze Welt von uns
will! Aber wenn es nach den Leuten ginge, dann hätten sie lieber ihren früheren
armseligen Zustand zurück … Deshalb ist der Zwang so nötig!«
»Aber Aufklärung darf doch nicht in
Tyrannei ausarten!« sagte Refık.
Muhtar war anzusehen, dass sich in
all seinen Diskussionen mit Refık etwas in ihm angestaut hatte, das er nun
loswerden musste. »Ach Junge, mit was für Worten du um dich wirfst!« rief er
lachend. »Was meinst du denn mit deiner Aufklärung? Fortschritt ja, das habe
ich begriffen, der Fortschritt ist wichtig, aber mit dieser Aufklärung bleib
mir vom Leibe! Solange es mit Industrie und Landwirtschaft vorwärtsgeht, kann
es ruhig dunkel bleiben im Lande. Ohne den Knüppel in der Hand hat sich noch
nie etwas getan bei uns, habe ich nicht recht?« Er sah Refıks bedrückte
Miene. »Vielleicht habe ich dich ja falsch verstanden. Aber man kann hier nicht
jeden machen lassen, was er will.« Zu Refet gewandt, sagte er: »Darum habe ich
auch auf diesen Nachbarn so eine Wut! Es soll doch vorwärtsgehen im Land …
Warum erzähle ich das eigentlich alles? Vielleicht, weil ich sehe, dass keiner
die Ratschläge von Onkelchen Muhtar so recht ernst nimmt … Aber jetzt
übertreibe ich! Der Einmannreformer mag im Sterben liegen, doch es sind noch
andere da, die die Fahne hochhalten!«
»Die Fahne oder die Fahnenstange zum
Dreinschlagen?« sagte Refet und lachte schallend, und dann wiederholte er es,
um nur ja klarzumachen, dass ihm nichts über das Scherzen ging.
»Ja, lach du nur«, entgegnete
Muhtar, »aber vergiss nicht, dass die Reformergeneration noch aufrecht dasteht
wie eine Eins!« Er sah auf das Dienstmädchen, das mit einem Obstteller
hereinkam, und sagte: »Jawohl, wie eine Eins!« Dann blickte er auf die Uhr.
»Mensch, was sitze ich hier noch herum! Ich komme noch zu spät ins Parlament!
Was wird es dann heißen über mich!« Hastig stand er auf und stieß dabei an den
Tisch, so dass der Wasserkrug umfiel.
»Papa! Jetzt hast du doch noch einen
Fleck!« rief Nazli.
Muhtar schlüpfte rasch in seinen
Mantel. Überflüssigerweise küsste er Nazli noch auf beide Wangen. Er warf
Refık einen kurzen Blick zu, der wohl besagen sollte: »Tja, so bin ich nun
mal!«, und sah dann Ömer beinahe strafend an. Im Hinausgehen rief er noch, er
sei in einer Stunde wieder zurück und bis dahin solle jedermann für die Fahrt
zum Stadion bereit sein.
Um die Erstarrung zu überwinden, in
der sie nach seinem Abgang verharrten, versuchte Refık wieder an das
vorhergehende Gespräch anzuknüpfen und seine Gedanken zu sammeln.
»Wie soll das also funktionieren?
Wie soll man das Licht der Vernunft bringen, indem man das Volk verprügelt?
Wenn wir darauf aus sind, dass in diesem Land die Vernunft einmal taghell
leuchtet, dann wollen wir das doch für das Volk, oder?« Da niemand Antwort gab,
sprach er nun speziell Refet an. »Finden Sie nicht auch, dass es falsch ist,
dem Volk eine fortschrittliche Gesellschaft aufzwingen zu wollen? Es mag ja
sein, dass in unserer Geschichte Modernisierung oft mit Zwang einherging, aber
das heißt doch nicht unbedingt, dass wir auch bei diesem Staat für
Gewaltanwendung sind …«
Refet witterte die Gelegenheit,
wieder ein Scherzchen anzubringen, und kam auch tatsächlich zum Zug, doch als
niemand in sein Lachen einstimmte und Refık ihn missmutig ansah, blickte
er nur noch sinnierend vor sich hin.
Refık wandte sich daraufhin
Ömer zu und setzte noch einmal zu einer Erklärung an, doch erntete er von
seinem Freund nichts anderes als das spöttische Lächeln, mit dem schon die
Diskussionen mit Herrn Rudolph bedacht worden waren. Da fühlte Refık sich
so niedergeschlagen wie noch nie nach einem jener Gespräche, und fiebrig
überlegte er, was er Muhtar entgegnen sollte. »Ich werde sagen, dass ich
niemals etwas unterstütze, was gegen das Volk gerichtet ist! Darauf wird er
behaupten, das alles sei nicht gegen das Volk, sondern für das Volk, nur eben
unter Zwang. Dann sage ich, so etwas gibt es nicht! Er wird mir dann genüsslich
historische Beispiele aufzählen und mich fragen, wie ich denn mein Dorfprojekt
durchzusetzen gedenke. Durch die Befugnis des Parlaments, sage ich dann! Darauf
sagt er, dass das Parlament doch gar nicht wirklich vom Volk gewählt worden
ist, und ich schweige
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