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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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betroffen. Wer hat also unrecht von uns beiden? Keiner!
Er will mir ja nur beweisen, dass es nicht verkehrt ist, gegenüber dem Volk
Zwang anzuwenden, und ich rede dagegen. Was kommt dabei heraus? Jeder sagt, was
er denkt, nur wirkt seine Version etwas glaubwürdiger. Das liegt an meinen
Projekten. Dabei sollten die doch das Licht der Vernunft bringen! Was wird nun
geschehen? Bald kommt Muhtar zurück, dann fahren wir ins Stadion. Später werde ich mich
vielleicht mit Süleyman Ayçelik treffen. Und bald kehre ich nach Istanbul zurück. Ömer und
Nazli schweigen sich schon tagelang an … Was soll ich nur tun?« In seiner
Verlegenheit dehnte und streckte er sich ausgiebig und sah dann zum Fenster
hinaus. Er wollte mit jemandem sprechen, sah aber ein, dass jeder nur seinen
Gedanken nachhing und keiner reden wollte. So grübelte er weiter. »Dann sage
ich ihm, dass das Parlament eben tatsächlich vom Volk gewählt werden sollte.
Darauf wird er mir entgegnen, dass das Volk nicht Leute wählt, die ihm nützen,
sondern solche, die ihm Honig ums Maul schmieren. Da hat er auch wieder recht.
Würden freie Wahlen veranstaltet und eine zweite und dritte Partei zugelassen,
so kämen lauter Imame und Spitzbuben ins Parlament. Um das zu verhindern,
müsste man bestimmte Regeln aufstellen: dass etwa die Religion nicht zu
politischen Zwecken missbraucht werden darf und dass man nicht Abgeordneter
werden kann, wenn man nicht studiert hat, auch wenn man Kaufmann oder
Großgrundbesitzer ist. Und dann muss das Volk so erzogen werden, dass es auch
die richtigen Leute wählt! Was noch?« Er musste schmunzeln. »Also, was soll man
wirklich machen? Muhtar hat nicht recht. Ich zwar auch nicht ganz, aber ich
stecke voll guter Absichten. Ich will etwas tun! Nur was?« Er dachte an die
Diskussionen mit Herrn Rudolph zurück. »Ich will den Leuten hier das Licht
bringen!« Er merkte, dass er sich im Kreise drehte und immer nur die gleichen
Gedanken und unscharfen Begriffe wiederholte. Mittlerweile war viel Zeit
verflossen, und er hatte auch seinen Kaffee schon getrunken. Immer wieder kam
er auf das gleiche zurück, auf sein früheres Leben, auf Perihan. »Damals war
ich noch ausgeglichen, und dann dachte ich, ich wäre aus dem Gleichgewicht
geraten. Ich ging zu dieser Güler ins Haus und danach wieder heim. Und ich
wanderte in Nişantaşı herum und dachte über mein verlorenes
Gleichgewicht nach. Wie lange ist das nun her? Acht Monate! Und was mache ich?
Ich sitze da und schaue, und ich sehe, dass Nazlis Kleid rot ist und denke
darüber nach. Gut, dass sie das angezogen hat. In diesem Zimmer, in dem jeder
so finster dreinschaut, ist das einzig Fröhliche dieses flaggenrote Kleid!« Er
sah das Kleid an und dachte: »Aber Muhtar war auch fröhlich. Und zwar so
fröhlich, dass er mich ungeniert gepiesackt hat. Was er wohl denkt? Er möchte, dass İsmet
Paşa ans Ruder kommt und ihm einen Posten verschafft. Vielleicht wartet ja
ein Ministeramt auf ihn. Warum nicht? Er ist ein guter Mann. Wie werde ich wohl
in seinem Alter sein?« Gähnend dachte er an das schwere Essen, das ihm im Magen
lag, dann an seinen Vater, und erst als es klingelte, merkte er, wie schnell
die Zeit vergangen war.
    Muhtar kam herein und rief: »Los
jetzt, schnell, wir sind schon spät dran! Was sind denn das für mürrische
Gesichter? Das Taxi wartet schon!«
    Sie eilten aus dem Haus und stiegen
in das Taxi. Unterwegs gab Muhtar den neuesten Klatsch aus dem Parlament zum
besten: Der Minister Şükrü habe sich gegenüber einem Journalisten zu der
Behauptung verstiegen, in intellektuellen Kreisen traue man das höchste Amt
keinem anderen so zu wie ihm. Um seinen Freund zu trösten, ließ Refet wieder
einen Scherz vom Stapel: Während seiner Verbannung auf Malta habe Şükrü
Kaya geschworen, sich an der Regierung dereinst zu rächen, und als Minister sei
ihm dieser Schwur wieder eingefallen … Diesmal lachten alle. Auch Muhtar war
wieder besser gelaunt und berichtete spöttelnd über die Zeremonie, der er
beigewohnt hatte.
    »Ein Theater, das Ganze! Gratuliere
hin, gratuliere her, wie ist das Befinden, ergebensten Dank!« Dabei neigte er
sich jeweils vor, als würde er wirklich jemandem die Hand schütteln, und sein
Gesicht wurde dabei rot und röter. Plötzlich rief er aus: »Ach Gott, ein Stau,
das hat uns gerade noch gefehlt! Jetzt kommen wir zu spät!« Das Taxi kam nur
noch schleppend vorwärts, und jedesmal, wenn es stand, fluchte Muhtar vor sich
hin. Als das Stadion

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