Cevdet und seine Soehne
den
anderen Eingang!«
Zusammen mit allen anderen wandten
sie sich der zweiten Tür zu und zwängten sich dann die Treppe hinauf. Der Abgeordnete
hielt seine Tochter bei der Hand und die wiederum Ömer. Plötzlich hatte
Refık das Stadion vor sich. Auf der Ehrentribüne wimmelte es vor Fracks,
Zylindern, Hüten, Orden und Uniformen, und daraus stachen die Farbtupfer der
überall angebrachten Fähnchen und der bunten Kleider und Hüte der Frauen
heraus. Alles harrte in freudiger Erregung.
Muhtar sah sich nach freien
Sitzplätzen um und lüpfte dabei immer wieder grüßend den Zylinder. Schließlich
entschied er sich für eine Sitzreihe und hielt entschlossen darauf zu. Hin und
wieder blickte er zurück, ob die anderen ihm auch folgten, grüßte dabei weiter
nach links und rechts und redete auf Refet ein.
Da ging ein Raunen durch die
Tribünen, und alle Köpfe wandten sich der gleichen Stelle zu. Applaus brandete
auf. Alle standen auf, um besser zu sehen. Der Applaus wurde noch stärker.
Refık bekam wieder den Nacken und die Wange zu sehen, die er zuvor schon
in der Menge erspäht hatte. Über dem Nacken war nun eine Hand, die einen Hut
hielt und damit umherfuhr, als wollte sie jeden Anwesenden einzeln streicheln.
Wohin Hand und Hut sich gerade wandten, dort war der Applaus am heftigsten.
Die Leute setzten sich dann, standen
aber zur Nationalhymne gleich wieder auf. Während sie gespielt wurde, musste
Refık daran denken, dass er auch jetzt die allgemeine Begeisterung nicht
teilen konnte. Ihm fiel ein, dass er schon auf dem Gymnasium bei der Hymne nie
mitgesungen hatte. Wie hatte doch Herr Rudolph gesagt: »In Ihnen ist das Licht
des Verstandes entzündet worden, deshalb sind Sie hier ein Fremder!« Aber das
hatte doch mit der Nationalhymne nichts zu tun? »Warum singe ich dann nicht
mit? Weil ich sonst meine eigene Stimme höre und mir das seltsam vorkommt!« Er
dachte an Hölderlins Worte über den Orient und dann wieder an die Diskussion
mit Muhtar. »Ich werde ihm sagen, dass …« Die gemeinsam gesungene
Nationalhymne hallte von der gegenüberliegenden Tribüne mit zweisekündiger
Verzögerung wider, so dass Refık sich an das Kannsingen im Musikunterricht
erinnert fühlte. Ihm ging noch einiges Unsinnige durch den Kopf, bis die Hymne
zu Ende war, dann setzten sich alle und lauschten der von Celâl Bayar
verlesenen Rede Atatürks.
Als diese zu Ende war, rief von
hinten jemand: »Er hat sie alle besiegt, dann besiegt er auch den Tod!«
Alles drehte sich zu dem Rufer um.
Da sagte plötzlich jemand: »Ach, Muhtar, Sie auch hier?«
Muhtar grüßte theatralisch.
Es war Kerim Naci, und neben sich
hatte er den Parteiinspekteur İhsan. Die beiden begrüßten auch Refık
und Ömer.
»Aha, Sie sind mit den Herren
Ingenieuren hier!« sagte Kerim Naci.
Muhtar murmelte erst »Jaja!«, aber
dann schickte er ein »Wie bitte?« hinterdrein, denn wegen der Flugzeuge, die
nun über das Stadium hinwegdröhnten, hatte er eigentlich nichts verstanden.
»Mit den jungen Ingenieuren sind Sie
also hier, habe ich gesagt!« wiederholte Kerim Naci unwillig. Unter seinen
hängenden Lidern hervor musterte er dann Ömer und Nazli und fragte: »Nun, haben
Sie geheiratet?«, nickte aber, ohne eine Antwort abzuwarten, gleich väterlich
mit dem Kopf, als dächte er wieder: »Was können Sie und Ihr Gestammel in meiner
Welt schon für einen Wert haben …«
Als Kerim Naci sich entfernt hatte,
musste Refet sich gleich profilieren: »Großgrundbesitzer, Ingenieur und
Abgeordneter in einem! Der Staat in Person!«
Muhtar aber verstand wieder nichts,
denn gerade brauste eine zweite Fliegerstaffel mit ohrenbetäubendem Lärm über
das Stadion. Auf den Tribünen wurde geklatscht, und manche riefen sogar etwas
zum Himmel hinauf.
44
HOFFNUNGEN EINES ABGEORDNETEN
Muhtar eilte die Treppe hinauf. Er ging
ins Wohnzimmer, dann ins Zimmer seiner Tochter, aber diese war nicht da. So zog
er sich in sein Schlafzimmer zurück, schloss die Tür und warf sich wie ein zum Weinen
bereites Kind aufs Bett. »Jetzt ist alles vorbei! Und alles fängt neu an! Was
wohl geschehen wird?« Er starrte auf die weiße Zimmerdecke. »Der Tod ist
furchtbar! Und ich ein Nichts! Neben ihm bin ich wirklich ein Nichts!« Sein
Gesicht zuckte, und nur die Scham bewahrte ihn davor, einfach loszuweinen. »Wie
furchtbar! Es ist alles so leer! Was soll nur werden?«
Was alle schon erwartet hatten, war
vor zehn Tagen eingetreten: Atatürk war in Istanbul verstorben. Nun hatte
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