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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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auf die andere Seite.
    »Ein winziger Schritt!« Was hatte er
aber nicht alles mitgemacht, um erst so weit zu kommen! Als Gouverneur hatte er
Drohbriefe voller Verleumdungen und wüster Beschimpfungen erhalten. Unter dem
Vorwand, die Kleidungsreform durchzusetzen, hatte er die kleinen Geschäftsleute
und die Geistlichen der Stadt aber auch ziemlich seckiert. Am Jahrestag der
Republik hatte er ungeniert ausgerufen, dass alle Reaktionäre ohne Nachsicht
bestraft würden. Er setzte in die Tat um, was er während seiner Ausbildung von
Autoren wie Namık Kemal und Tevfık Fikret in sich aufgesogen hatte.
Daneben war da sein von Rationalismus und Entschlossenheit gekennzeichneter
Kampf im Parlament. Selbstredend hatte er dabei nie in vorderster Linie
gestanden, aber als Hinterbänkler war er auch nicht zu bezeichnen, denn er war
unter den Reformanhängern der Präsenteste im Parlament. Er nahm an jeder
Sitzung teil, hörte aufmerksam zu, stand in den Pausen im Korridor, und wenn
irgendwo eine Diskussion entbrannte, war er augenblicklich zur Stelle und tat
seine Meinung kund, ohne aber je lautstark auf sich aufmerksam zu machen, eher
wie ein unauffälliger Schatten. Seine häufige Anwesenheit war nicht nur seinem
Eifer geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass er neben dem Abgeordnetenamt
keiner anderen Arbeit nachging. Abgesehen von den Ministern und den hohen
Parteifunktionären hatten die meisten Parlamentarier noch eine Nebentätigkeit.
Der eine war Journalist, der andere Rechtsanwalt, und so mancher war
Großgrundbesitzer. Ins Parlament waren diese Leute oft gerade wegen ihres
beruflichen Erfolgs gekommen. Muhtar hingegen, der seinen Sitz als erprobter
Gouverneur und Reformanhänger erhalten hatte, konnte keine andere Arbeit
ausüben. Man durfte nämlich zugleich Abgeordneter und Journalist sein, aber
nicht Abgeordneter und Gouverneur. »Zugleich Abgeordneter und Reformer zu sein,
das lassen die Statuten allerdings zu, und so jemand bin eben ich!« dachte
Muhtar und stand erregt vom Bett auf.
    »Wenn İsmet Paşa dieses
Schrittchen doch nur tun würde!« Er erinnerte sich, was er selbst für
İsmet Paşa schon geleistet hatte. Als der Paşa Ministerpräsident
gewesen war, hatte er ihn vorbehaltlos unterstützt, und nach seinem Rücktritt
hatte Muhtar ihm im Parlament Stimme und Ohr geliehen und bei
Hintergrundgesprächen dafür gesorgt, dass der Paşa nicht in Vergessenheit
geriet. Bei seinen Besuchen hatte er ihm auch stets hinterbracht, wie in den
Gängen des Parlaments über ihn geredet wurde. Seit İsmet Paşa in
Ungnade gefallen war, nahm er als Privatier Englischunterricht, las sich durch
die englische Geschichte, lernte das Geigespielen und studierte Schachzeit-Schriften. Muhtars Eifer quittierte
er mit einigem Erstaunen und ließ es hin und wieder nicht an einem lobenden
Wort fehlen. Nach einer wie stets mit einem Sieg des Papas zu Ende gegangenen
Schachpartie hatte er zu Muhtar gesagt: »Im Verteidigen sind Sie ja ganz
passabel, aber sobald es ans Angreifen geht, lassen Sie sich alle Chancen
entgehen!« Nun dachte Muhtar, während er im Schlafzimmer umherwanderte: »Hm,
ich lasse mir alle Chancen entgehen! Aber nein, diesmal wird sich İsmet
Paşa meiner erinnern und dafür sorgen, dass ich einen Posten bekomme! Er
wird daran denken, wie sehr ich ihm verbunden bin!« Beschämt hielt er inne.
»Ist das meine Haupteigenschaft: Verbundenheit?« Aber gleich beruhigte er sich
wieder. »Daran ist ja nichts Schlechtes! Zugegeben, ein Ausbund an Intelligenz
bin ich nicht. Leute wie ich kommen eben nicht durch Intelligenz hoch, sondern
weil sie fest an etwas und an jemanden glauben. Bei uns im Land steht ja auch
nicht hoch im Kurs, wer stur nur sein eigenes Ziel verfolgt. Man muss sich
immer an jemanden binden, der mehr weiß und versteht als man selbst, und an
diesen Menschen muss man dann glauben. Ja, Verbundenheit und Glaube, das ist
es! Ich bin İsmet Paşa verbunden, und ich glaube an die Reformen.«
Abrupt blieb er stehen. War das nicht alles lächerlich? Erschrocken blickte er
in den Schrankspiegel. »Mein Gott, bin ich etwa ein lächerlicher Mensch? Nein,
das bin ich nicht! Ich bin so wie alle. Schau dir nur dieses Gesicht an, diese
Gedanken … Ach, warum ist bloß alles so!« Er dachte wieder an die
Trauerfeier. »Alles so leer und lächerlich und sinnlos neben diesem großen
Mann! Wie die Menschen alle geweint haben! Und ich stelle hier meine eiskalten
Berechnungen an! Was würden die Leute sagen, wenn sie

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