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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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beschlagene Scheibe. »Na, Hatice, was sagst du dazu,
dass Atatürk gestorben ist?«
    »Das war ein großer Mann. Und er ist
gestorben, wie wir alle einmal sterben.«
    »Aber was passiert jetzt? Was meinst
du, wen İsmet Paşa berufen wird?«
    »Was soll ich dazu sagen? Davon
verstehe ich nichts.« Da blitzte in ihren Augen etwas auf. »Ich verstehe nichts
von Politik, also mische ich mich da nicht ein. So wie Sie nichts vom Kochen
verstehen …«
    »Ja, natürlich!« Muhtar fand es rührend,
wie das Dienstmädchen sich erregte. Er ging aus der Küche hinaus. Als er im
Wohnzimmer war, hatte er seine Sorgen auf einmal vergessen. Ob das Leben einen
Sinn hatte oder nicht, war plötzlich ganz unwichtig. »Hauptsache, ich lebe! Ich
lebe und lache und rede! Und freue mich auf mein Amt! Und da drüben kocht
Milchreis … Wenn das nicht reicht!«

45
  BEIM REFORMSCHRIFTSTELLER
    Refık stand vor der Wohnungstür und
zögerte vor dem Klingelknopf. »Ich werde ihm sagen, dass … Dass meinen Projekten
das Prinzip der türkischen Eigenart zugrunde liegt. Und dass davon ausgehend
bei der Schaffung der Dorfverbände die Straßen und die Zentraldörfer …« Er
drückte auf die Klingel. »Vor allem muss ich sagen, was ich von ihm will:
Süleyman Ayçelik, ich möchte, dass Sie mir im Rahmen unserer gemeinsamen
Überzeugungen bei der Gründung einer Bewegung behilflich sind, die den jungen
Staat bei seinen Reformen unterstützen soll. Das ist meine Bitte an Sie …
werde ich sagen.«
    Die Wohnungstür ging auf, und
Refık wurde von einem pausbäckigen runden Gesicht angelächelt. »Aha, Sie
sind das also. Willkommen! Haben Sie leicht hergefunden?«
    »Jaja, ganz problemlos«, erwiderte
Refık schüchtern.
    »Geben Sie mal Ihren Mantel her! Oh,
ich glaube, Sie frieren ganz schön! Ich habe gerade Tee gemacht. Gehen Sie
schon mal vor in das Zimmer da am Ende des Gangs, ich komme gleich. Ihr Gesicht
habe ich mir ganz anders vorgestellt! Herrgott, warum ist da wieder kein Haken
frei!«
    Sie gingen in ein mit Büchern
vollgestelltes großes Zimmer mit niedriger Decke. Aufgeregt lugte Refık
auf die Bücher, die auf dem Schreibtisch lagen. Er setzte sich
in den zugewiesenen Sessel neben dem Tisch.
    »Sie haben doch nichts dagegen, wenn
ich mich an meinen Schreibtisch setze?« sagte Süleyman Ayçelik. »Das soll nicht
offiziell wirken, aber an meinem Arbeitsplatz kann ich besser denken. In einem
Sessel wird man gleich so träge!«
    »Aber ich bitte Sie!« wehrte
Refık ab und sah wieder auf die vielen Bücher, die Bilder an der Wand, die
Papiere und Stifte, das Werkzeug eines denkenden und seine Gedanken auch
publizierenden Menschen, und wieder hatte er Angst, vor lauter Aufregung seine
Pläne nicht gut genug erläutern zu können. Als Süleyman Ayçelik den Tee holen
ging, holte Refık tief Luft und ging noch ein letztesmal durch, was er
sagen wollte. Gerührt sah er an der Wand ein Foto, das Atatürk und İsmet
Paşa gemeinsam zeigte.
    Als Süleyman zurückkam und bemerkte,
wohin Refık blickte, sagte er: »Ja, hat der Tod nicht etwas Furchtbares?«
Ohne Refık anzusehen, fuhr er fort: »Aber wir dürfen hier auch etwas sehr
Positives vermerken, und zwar dass die Republik diesen großen Verlust mit
Fassung zu tragen weiß. Es ist keine Panik ausgebrochen, keine Angst vor einer
ungewissen Zukunft. Das ist schon ein großer Erfolg. Wieviel Zucker möchten
Sie?«
    Sie plauderten dann noch eine Weile
über das Leben und den Tod an sich, über Jugend und Alter, wie zwei besonnene
Männer – einer mittleren Alters, der andere am Ende seiner Jugendzeit –, die
einander besser kennenlernen möchten. Süleyman Ayçelik erwähnte dabei seinen
Sohn, der in Istanbul das letzte Schuljahr absolvierte.
    »Ingenieur möchte er werden. Die
Jugend wendet sich heute mehr der Technik zu. Zu unserer Zeit wollte jeder
Soldat werden …«
    »Aber Sie doch bestimmt nicht! Wenn
ich mich nicht irre, haben Sie Ihr Studium in Moskau …«
    »Ja, aber darum geht es jetzt nicht.
Er will also Ingenieur werden, bitte schön, soll er nur. Aus Ihren Briefen habe
ich ja ersehen, wie differenziert ein Ingenieur zu denken vermag. Aber dem
Jungen fehlt es einfach an Begeisterungsfähigkeit, und das macht mir zu
schaffen. Haben denn die Reformen der Jugend nichts mehr zu bieten?«
    »Ja, Begeisterung ist wichtig, nicht
wahr?«
    »Wenn man jung ist, ja.«
    »Sie waren doch damals begeistert,
oder?«
    »Natürlich war ich das!« Gereizt
rutschte Süleyman mit den Füßen

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