Cevdet und seine Soehne
Zeitschrift
vertretenen Thesen noch einmal aus. Dabei machte er immer wieder Kunstpausen
und sah Refık streng an, als dächte er: »Jetzt sieh doch mal ein, dass wir
uns unterscheiden!« Als er mit seiner ausführlichen Zusammenfassung fertig war,
ging er zum Teeholen in die Küche.
Refık hatte ihm gar nicht
richtig zugehört, waren das doch alles Ansichten, die er zur Genüge kannte und
auch richtig fand. Viel wichtiger war ihm das imposante Gebaren des
Schriftstellers. »Ja, die Aufklärung wird kommen!« dachte er. Es wunderte ihn
nur, warum der Mann immer wieder so heftig wurde.
Als Süleyman mit dem Tee zurückkam,
fuhr er auch sogleich anklagend fort: »Da behaupten Sie, dass Sie mir in allem
zustimmen, und dann arbeiten Sie so völlig andere Projekte aus!«
Um Höflichkeit bemüht, erwiderte
Refık: »Mir ist immer noch nicht klar, wo da ein Widerspruch liegen soll!«
Dann zählte er ihre auch brieflich schon erörterten Gemeinsamkeiten auf.
Süleyman Ayçelik unterbrach ihn.
»Gemeinsam haben wir doch einzig und allein unseren Reformeifer. Und ich will
Ihnen mal sagen, wo der Widerspruch zwischen uns besteht. Sie nämlich haben
noch nicht begriffen, dass die Reformen ihre ganze Kraft aus dem Staat
beziehen. Sie haben lediglich vor, den Menschen auf dem Land das Leben ein
wenig zu erleichtern und ihnen die Möglichkeiten der modernen Technik zu
verschaffen. Das wollen wir alle. Aber Sie wollen nur das und nichts anderes.
Und Sie verstehen nicht, dass das nicht der erste Schritt sein darf und nicht
von selber geht. Erst muss der Staat wieder zu seiner früheren Stärke
zurückfinden, und dank dieser Stärke kann er dann überwinden, was dem
Fortschritt im Wege steht. Dem Staat gebührt der Vorrang! Denn
dass der Staat bei uns eine ganz besondere Rolle spielt, das scheinen Sie noch
nicht eingesehen zu haben!«
»Ich bin seit jeher der Meinung,
dass wir unsere Eigenheiten haben«, sagte Refık, ganz erschrocken, wie
verzagt seine Stimme klang. »Ich kann mich nur wundern!«
»Wir sind wir!«
»Ja, das sage ich doch auch immer!«
»Ja, das sagen Sie, und dann wollen
Sie nichts anderes als das Dorfleben ändern!«
»Den Leuten in den Dörfern geht es
furchtbar schlecht! Ich habe es gesehen auf der Baustelle!«
Abrupt stand Süleyman Ayçelik auf.
Lächelnd sagte er betont ruhig: »Sie sind da hingefahren, und die Menschen haben
Ihnen leid getan. Mir tun sie auch leid. Früher habe ich mich bemüht, Marxist
zu werden. Aber dann habe ich gelernt, mich von Gefühlen nicht überwältigen zu
lassen. Lernen Sie das auch! Dann bekommt das, was Sie schreiben, einen Wert!«
Nachdem er das so offen ausgesprochen hatte, setzte er sich wieder. »Der Staat
und seine Reformen werden sich auf ebendiese Bauern stützen. Wenn wir uns von
Gefühlen leiten lassen und den Bauern alles zurückgeben, was wir in Händen
halten, wie sollen wir dann eine Industrie aufbauen? Wenn wir nämlich das nicht
schaffen, wird der Imperialismus uns schlucken!«
»Stimmt, ohne Industrie wird es ganz
schlimm!« sagte Refık und kam sich dabei alberner vor denn je.
»Sie sagen mal das eine und mal das
andere. Beides zusammen geht aber nicht. Die Priorität gilt der Schaffung einer
staatlichen Industrie. Es hat schon einen Anlauf dazu gegeben, aber der wurde
gestoppt. Ich weiß nicht, was İsmet Paşa jetzt vorhat, aber eine
Staatsindustrie ist unbedingt notwendig. Und finanziert muss sie durch die
Landwirtschaft werden, also durch die Bauern, die Ihnen so leid tun!«
»Wenn sie doch wenigstens von den
Großgrundbesitzern nicht mehr unterdrückt würden!« seufzte Refık
trübsinnig.
Süleyman Ayçelik lächelte. »Dagegen
können die Reformen nichts ausrichten, das wissen Sie doch. Die Bolschewiken
möchten das be werkstelligen. Aber die haben in der Türkei nichts zu melden.
Und je weniger Rückhalt sie haben, um so mehr kritisieren sie!« Aus seiner
Miene sprach Mitleid mit den früheren Genossen. »Idealismus mag ja eine schöne
Tugend sein, aber es erscheint mir sinnvoller, etwas Handfestes zu schaffen!«
sagte er zornig. »Wie sind wir überhaupt darauf gekommen? Ach ja, weil die
Reformen den Großgrundbesitz nicht antasten.«
»Das können die Reformen also nicht
…« murmelte Refık.
»Aber vieles andere haben sie schon
geleistet. Auf die Landwirtschaft werden keine Steuern mehr erhoben. Für mehr
Wehrgerechtigkeit ist gesorgt worden. Und vor zwei Jahren haben wir die
Straßenbausteuer abgeschafft.«
»Die muss eine arge Plage
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