Cevdet und seine Soehne
gewesen
sein. Sie wissen ja, wer sie nicht zahlen konnte, der wurde –«
»Das weiß ich alles. Sie können mir
auch von Dersim erzählen, aber das weiß ich auch schon alles. Ich kenne unsere
sämtlichen Sünden und stehe auch dazu, weil ich überzeugt bin, dass es keinen
anderen Weg für uns gibt! Und wenn Sie etwas tun und dem Staat nützlich sein
wollen, dann müssen Sie sich trauen, ebenfalls zu diesen Sünden zu stehen. Aber
Sünden kann ich das nicht einmal nennen. Was für den Staat getan wird, kann
nicht Sünde sein. Aber für Sie mit Ihren verqueren Ansichten ist einiges
natürlich schon Sünde, und darum verfolgen Sie auch so falsche Ansätze. Denken
Sie doch mal nach, was Reformen eigentlich bedeuten. Was zum Wohle des Volkes
ist, muss dem Volk gebracht werden, aber notfalls auch gegen seinen Willen …«
Mit einemmal dachte Refık: »Was
bin ich doch für ein Idiot! Ich habe an diesen Projekten gearbeitet, um meinem Leben
eine neue Richtung zu geben. Um ein Ziel vor mir zu haben, habe ich diese
Bauern bemitleidet. Und jetzt stellt sich heraus, dass das alles nur Unsinn
war.« Mit gesenktem Kopf saß er da, sah auf seine Fußspitzen und nickte leise.
Er fühlte sich schuldig, wie ein Wesen außerhalb der Gesellschaft, ein
Perverser. »Ich habe nur phantasiert, mir alles mögliche eingebildet«, dachte
er. »Rousseau habe ich gelesen und bin aus Istanbul weg, und dann habe ich die
Armut dieser Bauern gesehen. Aber ich habe mich vertan …« Zum erstenmal kam
es ihm nicht erschreckend vor, sich als Außenseiter
zu fühlen. »Ich wollte etwas tun! Und das will ich immer noch!«
Refık sah Süleyman an und
fragte: »Ja was soll ich denn sonst tun?« Er schämte sich etwas, weil ihm die Frage
zu salopp geraten war.
»Sie können das tun, was ich mache«,
erwiderte Süleyman Ayçelik.
Refık dachte: »Und was macht
er? Er ist bei der Stadtverwaltung von Ankara für Wirtschaftsfragen zuständig.
Ein Beamter. Wenn ich Beamter werde, muss ich alles gutheißen, was der Staat
unternimmt. Und wenn ich mich dagegen auflehne, bringe ich gar nichts zuwege
…«
»Wir könnten eine schöne Aufgabe für
Sie finden«, sagte Süleyman Ayçelik. »Das Landwirtschaftsministerium hat ja Ihr
Buch veröffentlicht. Ich halte das Buch zwar für verfehlt, aber das macht
nichts. Zumindest stellt es Ihren guten Willen unter Beweis. Sie könnten im
Industrieförderungsausschuss des Wirtschaftsministeriums einen Posten finden.
Vielleicht werde ich auch dorthin wechseln. Sie wissen ja, erstes Ziel ist eine
starke Staatsindustrie!«
»Ach, ich kann weder ganz für den
Staat sein noch gegen ihn!«
»So sieht es aus bei Ihnen!« Zum
erstenmal klang bei Ayçelik so etwas wie Melancholie an. »Aber Sie müssen sich
entscheiden. Sie sind entweder für oder gegen uns. Sie wissen ja, wer gegen uns
ist.« Er zeigte auf seine linke Brust. »Auf der einen Seite die Kommunisten.
Die haben aber keine Wirkung. Und manche sind leider auch im Gefängnis.« Nun
deutete er auf die rechte Brust. »Und auf der anderen Seite die
Freiheitsapostel, die Leute von der İş-Bank
und die falschen Liberalen. Haben Sie zum Beispiel Staat und Individuum von
Ağaoğlu Ahmet
gelesen? Es hat aber weder an denen noch an den anderen gelegen, dass unserer
Organisationsbewegung kein Erfolg beschieden war. Das haben vielmehr die
Reaktionäre und die Reformfeinde besorgt. Die haben uns in einer Nacht den
Garaus gemacht. Sie wissen vermutlich, wie man den Autor Ihres geliebten
Ankara-Romans als Botschafter nach Tirana abgeschoben hat? Na ja, vielleicht
lässt sich unsere Arbeit unter İsmet Paşa fortsetzen. Sie können bei
uns mitmachen.«
Refık war verdutzt. Der Mann
hatte den Satz so zwanglos dahingesagt, als hätte er Refık nur zum Sitzen
aufgefordert. »Bei denen mitmachen?« dachte er. »Erst so viel Eifer an den Tag
legen und dann Beamter werden?« Der bloße Gedanke daran war ihm ein Greuel.
»Nein, unmöglich!« rutschte es ihm
heraus.
Es entstand ein Schweigen.
»Schade«, sagte Süleyman Ayçelik dann.
»Dabei haben Sie genau die Begeisterung, an der es der Jugend so fehlt. Was
haben Sie denn sonst vor?«
»Ich gehe wieder nach Istanbul.«
»Ach ja, Sie waren ja so lange an
dieser Baustelle.«
Refık dachte: »Ich gehe wieder
nach Istanbul! Habe ich etwa ein zu weiches Herz? Mit dem Staat
zusammenarbeiten? Nein, ein zu weiches Herz habe ich nicht, ich will mich nur
nicht an Schlechtigkeiten beteiligen! Bin ich also ein besserer Mensch als
dieser
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