Cevdet und seine Soehne
sei. Und dabei ist es nicht einmal er! Und Intelligenz ist auch
nicht alles, es gibt auch noch den Willen und, noch viel wichtiger: das Glück.
Ich bin ein Glückspilz, dazu gutaussehend und reich.« Beschämt stutzte er. »Ich
bin ja wohl doch ein wenig eingebildet …« Er zog den Pullover wieder an, den
er vorhin ausgezogen hatte, und mittendrin hielt er inne. »Was mache ich, und
was würde ich gerne sein?« Schon als kleiner Junge hatte er manchmal beim An- oder
Ausziehen eines Pullovers den Kopf darin vergraben und eine Weile
nachgedacht. »Was habe ich getan? Ich bin hierhergekommen und habe mich
umgetan, um die Maschinen zu verkaufen. Schließlich habe ich sie auf Lastwagen
verladen und sie nach Erzurum gebracht. Dort bin ich sie auch nicht
losgeworden, und seither bin ich hier und vertreibe mir die Zeit. Das
Hochzeitsdatum ist darüber vergangen. Was hätte ich machen sollen?« Er dachte
an seine Verlobung zurück, an seine Erregtheit damals und die vielen
bewundernden und liebevollen Blicke der Leute. »Soll ich etwa wieder das
gleiche machen? Wie wir damals um ihre Hand angehalten haben! Diese Gespräche!
Entsetzlich … Das ist alles nichts für mich! Ich will mich so richtig
ausleben!« Ihm fiel ein, dass er das mit dem Ausleben einmal zu Refık und
Muhittin gesagt hatte. »Furchtbar! Will gar nicht mehr daran denken! Ich will
diese ganze Kriecherei und Heuchelei in den Städten vergessen und zu mir selber
finden!« Er zog seinen Pullover an und griff nach dem Mantel, aber den ließ er
schließlich, denn das Wetter war schön, und er fühlte sich robust. »Genau das
braucht meine Seele, diesen dringenden Wunsch, an einem sonnigen Tag etwas
Rechtes zu unternehmen!« Er hielt inne. »Aber nach Istanbul will ich auch, und
ich fahre auch hin! Allein schon, um zu sehen, was sie so machen und wie das
Leben dort, das ich so satt habe, weiter seinen Lauf nimmt …« Er ging aus dem
Zimmer hinaus. »Ich fahre nach Istanbul, sehe mir das an, dann entscheide ich
endgültig und komme zurück!« Seine Stiefel klackten auf der Treppe. »Aber dann
habe ich doch praktisch schon entschieden? Oder etwa nicht? Ich Eroberer! Was
wollen Sie denn erobern, Herr Eroberer? Ach, Herr von Rudolph, ich gehe jetzt
diese Treppe hinunter und will an nichts mehr denken! Ich will nur frühstücken,
will leben …«
Unten war niemand. Er ging hinaus
und wurde gleich von der Sonne geblendet. Er sah Hacıs zotteligen Hund und
dann Hacı selbst. Hacı fing gleich vom Generator an und vom
Frühstück.
55
DIE BESCHNEIDUNG
»Jetzt sag mir doch mal, was in dem Glas drin
ist?« fragte der Zauberer.
»Wasser!« sagte sein halbwüchsiger
Sohn.
»Und wo haben wir das Wasser her?
Aus dem Schwarzen Meer, aus dem Kaspischen Meer, aus dem Indischen Ozean oder
aus dem Brunnen dahinten?«
»Die Kutscher haben es aus dem
Brunnen!« rief Osman.
Auf dem Balkon kicherten alle, wenn
auch nicht über den missglückten Scherz des Zauberers. Der Brunnen des Hauses
auf Heybeliada wurde regelmäßig von Kutschern belagert, die dort ihre Pferde
tränkten, und diese Plage war nicht loszuwerden. Nigân rümpfte die Nase. Schon
wieder dieses lästige Thema! Dann stimmte sie aber in die allgemeine
Fröhlichkeit ein, denn wann sollte sie schon fröhlich sein, wenn nicht beim
Beschneidungsfest für ihren Enkel Cemil?
»Aus dem Brunnen haben wir es!« rief
der Junge.
Dem Zauberer missfiel, dass er nur
für unfreiwillige Lacher sorgte. Er sagte zu seinem Sohn: »Was lachst du denn, hör
gefälligst zu!« und ließ auf die Schulter des Jungen seinen Zauberstab
herabsausen, denn darüber, das hatte er schon gemerkt, amüsierten sich die
Kinder auf dem Balkon und der Frischbeschnittene in seinem Ehrenbett am
meisten. Er versetzte seinem Sohn gleich noch einen Schlag und rief dann: »Wir
brauchen jetzt einen Gehilfen! Wer soll uns helfen, Cemil?«
Einen nach dem anderen sah Cemil die
auf dem terrassengroßen Balkon versammelten Festgäste an.
»Onkel Sait!«
»Nein, der nicht!« sagte der Zauberer.
»Dann Onkel Fuat! Oder Onkel
Refık!«
»Nein, nein! Sag mal, wie viele
Onkel hast du denn, Junge? Wir brauchen ein Kind als Gehilfen!«
So deutete Cemil auf einen seiner
Freunde von der Insel, und der Zauberer zog den schüchternen Jungen in die
Mitte. Es schwieg alles rundherum. Sie fremdelten bei diesem Zauberer, der so
gar nicht aus ihrem Milieu war und bei seinen Scherzen nicht den Ton traf.
Refık tat der Mann leid, und gerne hätte er vermittelnd
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