Cevdet und seine Soehne
Süden treiben.
»Das Haus ist noch ziemlich neu,
solider Stein! Beim Bau habe ich zugeschaut, da haben armenische Steinmetze
gearbeitet, der Bauführer war auch Armenier. Der gnädige Herr ist ja leider
tot. Die gnädige Frau verkauft nun alles. Wird alles aufgelöst, denn Kinder
sind keine da. So ist es, wenn man keine Kinder hat. Die haben hier keine
Wurzeln geschlagen. Das muss man aber im Leben, so wie der Baum hier …« Der
Gärtner sagte das nicht wie jemand mit viel Lebenserfahrung, sondern eher so,
als würde er über sich selber spotten.
Hinter den Bäumen und Konaks ging
die Sonne nun vollends unter. Cevdet stand auf. Er genoss den angenehmen Wind
und dachte: »Hier werde ich leben!«
Vor der Tür sagte der Gärtner noch: »Kaufen
Sie das Haus, es wäre sonst schade um den Garten. Der ist nämlich wirklich
schön …«
»Weht hier immer so ein leichter
Wind?« fragte Cevdet.
»Abends immer!«
Cevdet ging auf das Coupé zu.
Erweckte den schlafenden Kutscher.
10
DER WUNSCH DES KRANKEN
Es dunkelte, doch bei Cevdet machte sich nicht
der Unmut bemerkbar, den er zu dieser Stunde sonst immer empfand. Wenn er
abends den Laden zusperrte und von Sirkeci nach Eminönü hinüberging, wusste er
meist nicht, wie er dem bohrenden Ungenügen in sich beikommen sollte, und er
schlug sich an den enggefassten Wänden des Alltagslebens den Kopf ein. Nun aber
fühlte er sich so frisch und stark, als hätte der Tag gerade erst begonnen.
Seine Nerven waren entspannt, als würde er die Sorgen nicht nur eines Abends,
sondern eines ganzen langen Tages mühelos bewältigen können. Nicht einmal nach
einer Zigarette verlangte es ihn.
Er hatte den Kutscher angewiesen,
nach Beyoğlu zu fahren, zu seinem Bruder. In dem Coupé, in dem es nun
nicht mehr so unerträglich heiß war, schaukelte er gemächlich dahin. »Warum ich
mich so befreit fühle? Weil mir klargeworden ist, wie recht ich habe! Aber auch
der kühle Wind hat mir gutgetan. In diesem Garten in Nişantaşı
werde ich noch oft sitzen. Ich werde leben … Und mein Bruder stirbt!« Zum
erstenmal aber löste dieser Gedanke keine Panik mehr bei ihm aus. Er wusste,
dass sein Bruder über kurz oder lang sterben würde, doch wenn er diesen Tod bis
dahin als etwas Hässliches und Ungerechtes angesehen hatte, das ihn furchtbar
allein lassen würde, so erschien er ihm mit einemmal so natürlich wie das Leben
selbst. »Schlimm ist nur, dass mein Bruder ausgerechnet an dem Tag an der
Schwelle zum Tod steht, an dem ich mich meinem Lebensziel so nahe fühle wie nie
zuvor. Aber dafür kann ich doch nichts! Es ist nur die Folge von
Entscheidungen, die er und ich getroffen haben.« Das Coupé fuhr nach
Beyoğlu hinein. Er sah die in der Dämmerung dahinwandernden Menschen.
Nein, auch wenn alles als natürlich hinzunehmen war, trauern würde er um seinen
Bruder dennoch.
Er betrat die Pension, hörte sich
die Klagen der Wirtin an und überlegte, wie er dem Bruder an seinen letzten
Tagen noch eine Freude verschaffen könnte. Zuversichtlich wie nie zuvor ging er
die steinerne Treppe hinauf und klopfte an die Tür. »Ich werde ihm sagen, dass
ich seine Ansichten für richtig halte. Ob er mir das abnimmt? Ich behaupte
einfach, ich hätte es nun eingesehen.« Als aber die Tür aufging und er das
betrübte Gesicht Maris vor sich sah, war ihm augenblicklich klar, dass er
nichts dergleichen würde sagen können. Und als er die Stimme seines Bruders
vernahm, nicht schwach wie bei einem Bettlägerigen, sondern gebieterisch,
spürte er auch, woran das lag: Sein Bruder und er empfanden seit jeher nur
Verachtung füreinander.
»Was glotzt du denn so? Du siehst
mich an wie einen Toten. Ich bin aber noch nicht tot! Mir geht es sogar
ausgezeichnet!«
Cevdet musste erst seine Augen an
das Halbdunkel im Raum gewöhnen. »Ich sehe dich doch nicht wie einen Toten an!«
sagte er. Dann erblickte er Ziya, der reglos wie eine Puppe in einer dunklen
Ecke saß. »Herrje, den hätte ich doch nach Hause bringen sollen!«
»Setz dich hierher!« rief Nusret.
Cevdet ließ sich auf den Stuhl neben
dem Bett sinken. »Wie geht es dir?«
»Wie soll es mir gehen? Abkratzen
werde ich!«
»Nein, du wirst bestimmt wieder
gesund!«
»Das sage ich ihm auch«, warf Mari
ein. »Aber er sieht immer so schwarz.« Sie zündete eine Petroleumlampe an.
Nusret stützte das Kinn auf die Hand
und presste mit Daumen und Zeigefinger seine ohnehin schon eingefallenen Wangen
noch weiter zusammen. »Jeder Schwindsüchtige mit so
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