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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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dann versucht, ihn zu vergessen. Jetzt ist mir klar, dass ich
etwas für ihn tun muss, aber es ist fast schon zu
spät. Du versprichst es mir, ja? Leg doch bitte den Fes weg, damit ich dein
Gesicht sehe!«
    Cevdet legte den Fes wieder auf die
Kommode. Das grelle Licht der Lampe blendete ihn.
    »Hast du schon mal was von Prinz
Sabahattin gehört?« fragte Nusret. »Na ja, auf jeden Fall ist der jetzt in
Paris und gilt auch als Jungtürke. Wie alle Prinzen ist er ein Dummkopf, aber
er hat sich doch so seine Gedanken gemacht.« Er wies auf das Bücherregal, das
in einer Ecke stand. »Oder er hat, wie fast alle, bei anderen Leuten Gedanken
geklaut, aber jedenfalls finde ich richtig, was er sagt. Laut Demoulins ist der
Grund für die Überlegenheit der Engländer darin zu suchen, dass dort die
Individuen freier sind. Das ist genau das, was bei uns fehlt. Bei uns gibt es
keine freien, unternehmenden Menschen, die ihren Verstand benutzen! Bei uns
sind alle Sklaven und werden dazu erzogen, zu buckeln und sich zu fürchten und
in der Gesellschaft aufzugehen. Was hier Erziehung genannt wird, das sind die
Schläge der Lehrer und die blödsinnigen Einschüchterungen durch Mutter und
Tanten. Religion, Furcht, dunkle Gedanken, auswendig gelerntes Zeug …
Schließlich und endlich lernt man nichts anderes, als sich zu fügen. Und nie
stellt sich jemand quer und strebt aus eigener Kraft empor. Aufstieg ist immer
gleichbedeutend mit Unterordnung unter andere, mit Sklaventum. Niemand denkt
daran, seine eigene Rechnung aufzustellen. Und denkt einer doch daran, so
fürchtet er sich. Höchstens rechnet man sich aus, was einem das Kuschen bringt.
Demoulins zufolge haben in zentralistischen Staaten solche Menschen … Sag
mal, hörst du mir eigentlich zu? Ich will nicht, dass mein Sohn so wie diese –«
Erneut packte ihn ein Hustenanfall. Als er in den Napf spuckte, wurde es
besser.
    »Verstehst du, was ich meine? Schau,
du hast allein etwas auf die Beine gestellt, also musst du mich doch
begreifen.«
    »Du überanstrengst dich!«
    »Das ist doch keine Antwort!
Wenigstens in diesem einen Punkt kannst du mich doch verstehen!«
    Cevdet ließ sich diese Gelegenheit nicht
entgehen. »Es stimmt, was du sagst. Ich verstehe dich schon. Ich habe dir auch
immer recht gegeben, aber ich konnte es nie so richtig zeigen.«
    »Von wegen!« Nusret rieb wieder
Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Was anderes als das hast du noch nie
verstanden! Wenn ich von Licht rede und von Helligkeit, dann denkst du doch nur
an glitzernde Geldstücke! Aber das ist gut so. Es ist gut, wenn du nichts
anderes als Geld im Kopf hast. Dadurch denkst du rational. Du verstehst mich
zwar nicht, aber du hast mir dein Wort gegeben. Deshalb will ich ja auch, dass
mein Sohn im Haus eines Kaufmanns aufwächst. Bei einem Kaufmann, und noch dazu,
wenn er bei Null angefangen hat wie du, wird alles genau berechnet und geplant.
Und wo gerechnet und geplant wird, da herrscht die Vernunft und nicht die
Furcht.«
    Cevdet tat ganz empört: »Meine
Familie wird sich nicht auf Berechnung gründen!« Gleich darauf reuten ihn diese
Worte.
    »Schon gut, schon gut. Ich weiß, was
dir durch den Kopf geht. Und ich weiß auch, wie du dich mir gegenüber geben
willst, und dass du mich eigentlich nicht verstehst. Trotzdem ist es besser,
wenn er bei dir aufwächst. Er wird sich an dir ein Beispiel nehmen und dadurch
zum Individuum werden. Schlagen darfst du ihn natürlich nicht. Lass ihm einfach
seine Freiheit, er soll sich beschäftigen, wie er will. Und soll begreifen,
dass er mit seinem Verstand etwas anfangen kann, seinem Verstand vertrauen
darf. Lass ihn allein in einem kleinen Zimmer wohnen. Mit der Zeit wird er
lernen, dass man als freier Mensch leben kann, dass alles, was er in Haseki
gelernt hat, nur aus Lügen besteht, und dass all das Gerede von Religion und
von Gott nur lauter Hässlichkeit verbergen soll und sie auch noch weiter nährt.
Ob er es wirklich lernen wird? Ach, ich weiß es nicht, ich würde es so gern
noch miterleben, ich will nicht sterben, ich will nicht sterben, ich will leben
und sehen, wie das alles noch ausgeht. Und jetzt will ich etwas essen! Und
rauchen!«
    »Hast du Hunger?«
    »Ja, bring mir ein Kotelett! Der
Arzt hat mir heute morgen gesagt, ich soll Kotelett essen! Ha! Fleisch, Milch,
Eier, Kotelett …« Er lachte auf. »Ich werde sterben. Unsere Mutter ist ja
auch an Tuberkulose gestorben! Halt, was stehst du denn auf, setz dich wieder!«
    »Du wolltest doch

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