Cevdet und seine Soehne
einfach ab! Aber Sie
trinken ja gar nichts?«
Ömer versuchte etwas zu sagen.
»Februar neunzehnhundert-sechsunddreißig!« dachte er. »Ich gehe nach Istanbul
zurück …«
»Nein, nein, lassen Sie nur, ich
verstehe Sie schon«, sagte Sait. »Sie sind so in Gedanken versunken, auf Sie
wartet wohl jemand in Istanbul! Verstehe, verstehe …« Er setzte ein
väterliches Lächeln auf.
»Nein, auf mich wartet niemand«,
erwiderte Ömer. »Kein Mensch erwartet etwas von mir!« Er streckte sein Glas zu
der Weinflasche, die Sait in der Hand hielt. »Sie haben recht, bis jetzt habe
ich nicht mitgetrunken, aber das soll nun anders werden!«
»Die Frauen sollen auch mittrinken!«
rief Sait. »Wir sind ja noch nicht in der Türkei!«
Das war eine Anspielung auf den
kulturellen Wandel und die Gepflogenheiten in der Türkei, unserer geliebten,
traurigen Heimat, auf die der Zug da um Mitternacht zufuhr. Schon lange wurde
bei Tisch über solche Themen geredet, wurde
gelacht und gescherzt. Sait machte sich über seine Frau Atiye lustig: Alkohol
so richtig genießen könne diese einzig und allein im Ausland. Daraufhin
spöttelte Saits Schwester Güler über ihren Bruder: Ob der etwa nicht jedesmal,
wenn er nach Frankreich fuhr, seine Ansichten über Rakı und Wein wieder
mal völlig umwerfe?
Sait tat so, als ob der Scherz
seiner Schwester ihn gekränkt habe. »Über Rakı gibt es für mich keine
Diskussion«, sagte er. Und zu Ömer gewandt: »Das ist ein Männergetränk!«
Darüber wurde nicht gelacht.
Lediglich Sait selbst lächelte zufrieden, weil er in Ömer einen männlichen
Bundesgenossen sah.
Bekanntschaft geschlossen hatten sie
am Vorabend im gleichen Speisewagen. Sait hatte in dem vollen Waggon gefragt,
ob sie sich an Ömers Tisch setzen dürften. Nach den ersten Höflichkeitsfloskeln
hatte Sait dem jungen Mann erklärt, was sie nach Paris geführt habe: Er und
seine Frau hätten sich nämlich angewöhnt, jedes Jahr nach Europa zu reisen.
Diesmal hätten sie auch Saits Schwester mitgenommen, die sich gerade von ihrem
Mann getrennt habe. Ömer wiederum hatte erzählt, er sei auf der Rückreise von
London, wo er vier Jahre lang Ingenieurwesen studiert habe.
»Aber bei den Frauenrechten sind wir
doch so manchem europäischen Land voraus«, sagte Atiye nun.
»Stimmt, und das ist von Bedeutung«,
erwiderte Sait. »Tja, wir sind eben eine Republik jetzt.« Mit einem Lausbubenblick,
der in seinem Gesicht deplaziert wirkte, fügte er hinzu: »Aber schließlich und
endlich haben die Frauen doch überall auf der Welt die gleichen Pflichten.«
Er erntete damit betretenes
Schweigen.
»Nun ja, das ist seine Meinung«,
kommentierte Atiye knapp die Grobheit ihres Mannes. Allerdings war es nicht
ihre Art, sich mit so etwas lange aufzuhalten. Plötzlich leuchteten ihre Augen
auf, und sie zog ein paar Fotos aus der Tasche, die sie lächelnd Ömer hinhielt:
»Schauen Sie, das da ist meine süße Pflicht!«
Ömer nahm das erste Foto zur Hand
und sah darauf einen kleinen Jungen im Matrosenanzug. Eine Hand hatte er auf
eine Stuhllehne gestützt, mit der anderen grüßte er.
»Wie alt ist er denn?« fragte Ömer
höflichkeitshalber.
»In einer Woche wird er vier! Im
März 1932 ist er geboren.«
Ömer dachte: »Und ich bin seit vier
Jahren im Ausland!« Er lauschte auf das Rattern des Zuges. »Seit vier Jahren
habe ich keinen Fuß in die Türkei gesetzt. Ich bin nach Europa abgehauen,
wollte eigentlich promovieren, habe mich aber dann mit einem Ingenieurdiplom
begnügt, habe mich auch herumgetrieben und ein wenig an mich selbst gedacht,
habe das Erbe meiner Eltern durchgebracht, habe gelebt … Und jetzt fahre ich
heim. Ich kehre heim und stürze mich ins Leben, so wie meine Tante das von mir
erwartet.«
»Auf dem Bild da war er ein Jahr
alt, da haben wir zu uns nach Hause in Teşvikiye einen Fotografen kommen
lassen.«
Auf dem Foto lag der Junge auf dem
Arm seiner Mutter, während der leicht vorgebeugte Sait seiner Frau eine Hand
auf die Schultern legte, aber mehr nach Art eines beschützenden großen Bruders.
Die dritte Aufnahme musste aus einem Fotostudio stammen. Das Ehepaar hatte
dabei ein gefrorenes Lächeln aufgesetzt. Ob sie auf dem Foto glücklich waren oder
diese Pose einfach für angebracht hielten, war nicht recht zu erkennen. Der
Junge auf ihrem Schoß machte einen weinerlichen Eindruck.
Ömer merkte, dass er etwas sagen
musste. »Ein lieber Junge.«
»Das sagen alle«, rief Atiye
sogleich aus. Fröhlich nahm sie die
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