Cevdet und seine Soehne
Schuldgefühl noch Befriedigung empfand. Lächelnd ließ er den
ganzen Tag Revue passieren. Er reckte sich und hätte dabei die langen Arme am
liebsten zum Fenster hinausgestreckt. Beim Gähnen entfuhr ihm, als er die
Kiefer gerade am weitesten aufgesperrt hatte, ein entspanntes Stöhnen. »Endlich
nach Hause! In mein sauberes, frisches Bett!« Er ließ den Kopf leicht
zurücksinken, dann noch weiter, die Augenlider fielen ihm zu, aber nicht ganz.
Verhuscht sah er die Welt da draußen an sich vorbeiziehen, von Insekten
umschwirrte Straßenlaternen, dahineilende Menschen, schwache Lichter von
irgendwoher. Er lehnte den Kopf an, ließ die leichte Brise, die zum einen
Fenster hinein- und zum anderen hinauswehte, über seinen Körper streichen,
beteiligte seine Seele nicht an dem, was ihm durch den Kopf ging, hörte nicht
auf das feige, verschlagene, unaufhörliche Geschwätz des Bewusstseins und saß
so eine ganze Weile einfach reglos da. Immer wieder dachte er an den Satz, der
ihn am Nachmittag überkommen hatte: »Ich lebe!« Das Coupé fuhr die Steilstraße
hinunter, überholte andere Kutschen, und auf dem Straßenpflaster erklangen die
Pferdehufe. Als der Holzboden unter den Rädern der Kutschte knarrte, wusste er,
dass sie auf der Brücke angelangt waren.
Während sie die Brücke überquerten,
blähte der Wind vom Marmarameer die kleinen Vorhänge des Coupés. Cevdet lehnte
sich ans linke Fenster und sog den Wind ein. Das Meer roch nach Tang. Irgendwo
in der Ferne glomm ein schwaches rosafarbenes Licht. Es kam ein Südwind auf.
Ein an der Brücke vertäutes Schiff hob und senkte sich rhythmisch. Wenn der
Beamte, der den Brückenzoll kassierte, seine Zigarette dem Wind zuwandte,
glühte sie auf. »Wieder ein Tag vorbei!« seufzte Cevdet. Weder im alten
Istanbul noch auf der anderen Seite in Pera waren Lichter zu sehen.
Der sonnenglühende Tag hatte im
Nebel begonnen, und als Cevdet daran zurückdachte, verfinsterte sich seine
Miene. Er riss ein Streichholz an, das ihm aber vom Wind ausgeblasen wurde, so
dass er seine Zigarette erst beim dritten Versuch anzünden konnte. »Dieser
Alptraum! Da war schon klar, dass der Tag schlecht beginnen würde. Dann habe
ich Eskinazi nicht angetroffen. Und der junge hat mir den Brief gebracht, von
dem ich zuerst dachte, das sei nur ein Trick, um Geld aus mir herauszupressen.
Aber ich schäme mich dieses Gedankens nicht!« Den Paşa hielt er im
Rückblick doch nicht für so schlimm, sondern ganz einfach für einen gutmütigen
Menschen, der Freude an Unterhaltung hatte. Cevdet musste lachen, als ihm die
Schürzenjägereien wieder einfielen, die der Paşa beim Tavlaspielen erzählt
hatte. Statt sich davon abgestoßen und schmerzlich berührt zu fühlen wie sonst
von dergleichen, brachte er mildes Verständnis dafür auf. Gerne dachte er auch
an den italienischen Arzt zurück, der in Beyoğlu so lebensfroh durch die
Straße gegangen war. Wie er Mari die Hand geküsst und sich auch sonst benommen
hatte, daran war zwar etwas typisch Christliches, aber doch auch etwas durchaus
Sympathisches. »Irgendwie nett war auch der dicke Mann in der Apotheke, der
Champagner und Mineralwasser gekauft hat. So wie die müsste man es machen …
Fröhlich sein, lachen, essen, trinken … Von jetzt an werde ich auch so leben.
Aber ich darf das Geschäft nicht vernachlässigen. Wie soll ich nur beides
vereinbaren? Eigentlich bräuchte ich zwei Leben, dann würde ich eines im
Geschäft und eines zu Hause verbringen.« In der Ferne hörte er es donnern.
»Worte, nichts als Worte …« Der Wind wehte den einen der kleinen Vorhänge zum
Fenster herein und ließ den anderen hinausflattern. »Worte fliegen, Vorhänge
fliegen. Ich lebe. Es kommt ein Lodos auf, wahrscheinlich ist morgen das Meer
so unruhig, dass sie den Schiffsverkehr einstellen. Ach, dann kommt Eskinazi
gar nicht von seiner Insel zurück. Wieder so eine Kaufmannssorge, die einem die
Laune vermiest. Buchhalter Sadık wird morgen wieder sagen, Sie müssen
diese Schulden eintreiben. Armer Sadık! Ein Buchhalter. Ich bin Kaufmann.
Sowohl Fuat als auch Şükrü Paşa haben mich gefragt, was das Leben
sei. Zu Fuat habe ich gesagt, das ist eine absurde Frage. Absurd, absurd. Wozu
soll man sich so was fragen? So was fragen Bücherwürmer und Verwirrte. Fragt
etwa Tante Zeynep sich so was? Die lebt einfach. Und ich auch.
Jetzt lege ich mich schlafen, und morgen früh stehe ich wieder auf. Ich kümmere
mich um meine Geschäfte, ich werde heiraten, ich
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