Cevdet und seine Soehne
einen Polizisten. Daran stieß ich mich aber gar nicht,
sondern ich trug ihm Gedichte vor, die er geschrieben hatte, und auch Gedichte
von Namık Kemal. Getrunken hatte ich auch schon ein wenig … Von dem
steilen Weg dort hinauf war ich noch ganz erschöpft, mir drehte sich der Kopf,
und ich steigerte mich immer mehr hinein. Er aber schien gar nichts zu
begreifen. Dann führte er mich in seinem Haus herum, dessen Plan er selbst
gezeichnet hatte, wie er stolz vermerkte. Und die von ihm gemalten Bilder
zeigte er mir. Ja, du hörst schon recht, ein revolutionärer Dichter gibt alles
auf und malt Bilder. Und was für welche: herabfallendes Laub. Einen Teller mit
Obst darin. Er legt also allen Ernstes zwei Äpfel und eine Orange auf einen
Teller und malt das Ganze. Jetzt frage ich dich, ob ein Revolutionär sich so
etwas erlauben darf? Darf ein Revolutionär den ganzen Tag auf eine Orange und
zwei Äpfel starren und sie abmalen? Und darf ein Revolutionär einem anderen
Revolutionär so etwas auch noch zeigen? Ich habe zu ihm gesagt: Warum machen
Sie das? Schreiben Sie doch lieber Gedichte! Schreien Sie alles hinaus, damit
es jeder hört! Schreien Sie: Volk, erwache, steh auf! Nieder mit dem
Despotismus!«
»Sei doch endlich still!« rief Mari.
»Er hatte nur Verachtung für mich
übrig, und ein bisschen wollte er mich wohl auch aushorchen … Dann sagte er, er
habe jetzt Unterricht. Zu einer Geste ließ er sich aber doch noch herab, er
schenkte mir nämlich einen kleinen Gedichtband. Nicht von sich selbst, sondern
von einem französischen Dichter. Anscheinend wurde ihm klar, dass ich doch kein
Polizist bin, und da wollte er sich gönnerhaft zeigen. Er lobte den schönen
Einband des Buches und erklärte, dass er von dem Autor besonders viel halte.
Ich habe mich dann später erkundigt: Es handelt sich bei dem Mann, François
Coppée heißt er, um einen
tumben Revolutionsgegner, der beim Dreyfus-Prozess auf Seiten der Reaktion
stand. Wo ist das Buch noch mal, Mari? Ah, da in dem Fach, bring es mir her,
dann zerreiße ich es!«
Da fühlte Cevdet plötzlich jene
unbekannte Kraft wieder in sich, die er schon am Nachmittag in Nişantaşı
verspürt hatte. Er stand auf und rief: »Jetzt reicht es aber!« und wunderte
sich dann selbst, dass dieser Zornesausbruch nicht einmal künstlich wirkte.
»Schlaf jetzt endlich! Sonst rufe ich wieder den Arzt!«
»Hole ihn doch, diesen Italiener,
dann habe ich jemand zum Reden. Das Licht der Vernunft hat ja zuerst in Italien
geleuchtet, das ist also die Heimat des Lichts. Na schön, ich werde ein wenig
schlafen. Du kannst gehen, wenn du willst. Wann kommst du wieder?«
»Morgen!« erwiderte Cevdet, aber dann
reute ihn sogleich, nicht lieber übermorgen gesagt zu haben. »Wo ich doch so
viel zu tun habe!« Er ärgerte sich, weil er irgendwie fürchtete, die unselige
Atmosphäre in dem Raum bringe seine ganze Ordnung durcheinander. »Der ganze Tag
ist zum Teufel gegangen!« dachte er. Missmutig ging er im Zimmer umher.
»Was läufst du denn da herum? An was
denkst du?« fragte Nusret. Dann begann er wieder irgend etwas zu erzählen.
Cevdet hörte ihm nicht mehr zu. Als
er zur Tür ging, kam Mari ihm hinterher. Er sagte ihr noch einmal, dass er am
nächsten Tag wiederkommen werde.
»Ja, bitte, kommen Sie! Wenn Sie da
sind, ist er viel angeregter und lebhafter als sonst …« Sie blickte verschämt
zur Seite und fügte hinzu: »Nur dass er Ihnen ziemlich zusetzt … Der Junge
möchte Sie übrigens auch wiedersehen. Er hat mich vor dem Schlafengehen
gefragt, ob Sie ihn wieder spazierenfahren.«
»Ja, das mache ich«, erwiderte
Cevdet lächelnd.
12
NACHT UND LEBEN
Als Cevdet die Treppe hinabstieg, sah er drunten
die Leute, die um ein Tischchen mit einer Lampe herumsaßen und plauderten. Als
er an ihnen vorbeikam, verstummten sie, so dass er nicht mitbekam, ob sie sich
nun über den besten Reispudding, die niedrigen Preise in Üsküdar oder über
Rheuma unterhielten. Er trat in die Nacht hinaus und merkte erst da, wie
stickig es in der Pension und in dem Krankenzimmer gewesen war. Es wehte hier
genauso ein Lüftchen wie in Nişantaşı. Der Himmel war nun
bewölkt. Cevdet weckte den auf seinem weichen Kutschbock schlafenden Kutscher.
Bis der wieder einigermaßen zu sich kam, rauchte Cevdet eine Zigarette. Als
sich das Coupé mit dem typischen Schaukeln in Bewegung setzte, öffnete Cevdet
das Fenster. »Er stirbt, und ich lebe!« Erleichtert stellte er fest, dass er
darüber weder ein
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