Cevdet und seine Soehne
euch Tee.«
Als sie draußen war, sagte Ömer:
»Sie setzt dir wohl ziemlich zu, was?«
»Und ob!« stieß Nazli mit einer
nervösen Geste hervor. »Manchmal ist es mir einfach zuviel!« Die Katze auf
ihrem Schoß hob beunruhigt den Kopf.
»Die Reformen setzen sich also nicht
einmal im Haus eines Abgeordneten durch!«
»Nein! Na ja, mein Vater wohnt ja in
Ankara!«
Sie schwiegen.
Nach einer Weile kam Cemile
aufgekratzt mit dem Teetablett zurück. Sie verkündete, sie habe Marmeladenbrote
hergerichtet, schwelgte dann in Jugenderinnerungen und schimpfte irgendwann mit
Nazli, weil sie nicht zu den Broten griff.
»Nichts isst dieses Kind. Ich weiß
nicht, was aus ihr werden soll. Findest du nicht auch, dass sie mager ist?«
Ȇberhaupt nicht! Sie ist genau so, wie
sie sein soll!« Wieder hatte er das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.
»Iss du wenigstens davon! Ich habe
sie auch für dich gemacht!«
Um nicht so untätig dazusitzen,
griff er zu einem Brot und biss zaghaft hinein. Er kam sich vor wie ein taktloser
Fremder, geradezu wie ein Tölpel. »Irgend etwas lähmt mich in diesem Haus!«
dachte er. »Und nicht nur hier, in ganz Istanbul! Was sitze ich eigentlich hier noch herum? Ich muss weg!« Und doch
blieb er sitzen. Als wollte er diese ungewohnte Tolpatschigkeit bis zur Neige
auskosten. Er wartete auf etwas, wusste selbst nicht genau, auf was, wollte es
aber in Erfahrung bringen. Dann dachte er doch wieder: »Mir bleiben nur noch
drei Tage in Istanbul, und anstatt mich in Beyoğlu ein wenig zu amüsieren,
hocke ich hier in diesem Haus herum!« Aber irgendwie ahnte er, dass ihm hier
etwas zuteil werden konnte, das er in Beyoğlu nicht finden würde. So
lauschte er Tante Cemile, die vom Hundertsten ins Tausendste kam. Irgendwann
dachte er dann: »Du bist mir ein schöner Eroberer!« und stand auf.
»Ich geh jetzt!«
»Soso, du gehst also. Bis nach
Kemah! Wann kommst du wieder mal?«
»Wer weiß?« erwiderte Ömer, und
gleich darauf war es ihm peinlich, schon wieder wie ein um Verständnis
buhlender einsamer Mann zu wirken. Ständig hatte er hier Grund, sich zu
schämen.
»Sag deinem Onkel und deiner Tante
einen schönen Gruß von uns!«
Als sie schon an der Tür standen,
versuchte Ömer aus Nazlıs Gesicht etwas abzulesen, aber er fand darin
nicht das Erhoffte. Zuallerletzt fiel ihm noch ein Scherz ein: »Soll ich dir
aus Persien Briefe schreiben?« fragte er Nazli.
»Ja, schreib mir welche!« Da blitzte
in ihrem Gesicht auf, was Ömer zuvor darin gesucht hatte.
»Nach Persien fährst du auch?«
wunderte sich Cemile.
»Nein, das war nur ein Scherz! Und
eigentlich heißt das Buch irgendwie anders …« Er fühlte sich erleichtert, als
sei er schon an der frischen Luft.
Mit tröstlicher Stimme sagte Cemile:
»So weit gehst du fort! Ich wünsche dir gute Reise! Möge Gott dir beistehen!«
»Ich schreibe euch und berichte!«
Als er die Treppe hinabstieg, fühlte er sich stark und intelligent.
8
DIE FRAUEN IN BEYOĞLU
Nigân schwitzte beim Treppensteigen. Sie spürte
ihr Herz schlagen und die Schläfen pochen. »Man könnte meinen, es wäre noch
Sommer!« Dabei waren sie schon vor einem Monat aus ihrem Sommerhaus zurück nach
Nişantaşı gezogen. Nun, Anfang Oktober, war es in Beyoğlu
immer noch drückend heiß.
Nigân sah Perihan an: »Hier ist es,
oder?«
Perihan nickte und drückte auf die
Klingel. Sie standen vor der Wohnung von Ayşes neuem Klavierlehrer. Den ganzen Winter über würden sie
zweimal pro Woche hierherkommen. So oft den Weg bis zum Haus kurz vor dem
Tunnel zurückzulegen, dort vier Stockwerke hinaufzugehen und dann in dem
muffigen Treppenhaus zu warten, bis die Tür aufging, machte Nigân eigentlich
nichts weiter aus, aber ihre Tochter sollte doch merken, was die Mutter da für
sie tat.
Die Tür wurde von der Putzfrau
geöffnet, die sie schon bei den vorherigen Malen gesehen hatten. Sie setzten
sich wieder in das Zimmer, in dessen Wänden Bilder von vornehmen Herren mit
gepflegtem Bart hingen. Nigân sah auf die Uhr: fünf vor vier. Aus dem Nebenraum
vernahmen sie Klaviertöne. Perihan saß ihrer Schwiegermutter gegenüber,
blätterte kurz in einer Zeitschrift und sah dann gelangweilt zum Fenster
hinaus. Nigân kam sich vor wie im Wartezimmer eines Arztes. Das Klavierspiel
von nebenan hörte sich gar nicht so an, als ob es schon bald zu Ende wäre. »Was
für einen Aufwand wir da treiben, damit das Mädel Klavier lernen kann!« Aber
auf Anerkennung brauchte man ja
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