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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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nicht mehr zu hoffen, und von jungen Leuten
schon gar nicht.
    Es war Oktober 1936, und sie war
achtundvierzig Jahre alt. Von ihrem knarrenden Stuhl aus musterte sie ihre
Schwiegertochter. »Die ist ja noch ein halbes Kind!« Perihan hatte die Stirn an
die Scheibe gelehnt und sah hinaus. »In ihrem Alter …« dachte Nigân und
begann zu rechnen. »Perihan ist jetzt zweiundzwanzig. Als ich in ihrem Alter
war, also nach dem neuen Kalender 191o, da hatte ich schon das zweite Kind auf die Welt gebracht!«
Stolz zwinkerte sie mit den Augen. Manchmal kam sie sich schon ziemlich geplagt
vor, ungerecht behandelt. Nun musste sie hier warten wegen ihres dritten
Kindes, dieses unleidigen Mädchens. »Dafür gehen wir nachher zu Lebon!« sagte
sie sich zum Trost. Sie waren um Viertel nach vier mit Leylâ in der Konditorei
verabredet.
    Das Klavier verstummte. Kurz erklang
noch eine Geige, dann war es still. Es waren nur noch Schritte zu hören und das
gebrochene Türkisch des ungarischen Musiklehrers. Als die Tür aufging, trat
zunächst ein gutaussehender, aber blasser Jüngling mit einem Geigenkasten
heraus. Nigân überlegte gerade, wer das sein könnte, da sah sie Ayşe,
hinter der auf seine bedächtige Art Monsieur Balatzs lächelte. Er trug genau so
einen Bart wie die Herren auf den Bildern. Beim Anblick von Nigân und Perihan
wurde er ganz lebhaft. Eine Begrüßung murmelnd, schüttelte er den beiden die
Hand. Es war ein kleiner, dicklicher Mann, der so gar nicht wie ein
Klavierlehrer aussah, aber durchaus charmant sein konnte. »Ein vornehmer
Mensch!« dachte Nigân beim Hinausgehen. »Wenigstens ein Europäer!« Sie ging die
Treppe hinunter und ertappte sich bei den seltsamsten Gedanken. »Aber na ja!
Ein Klavierlehrer!«
    Sie gingen wieder nach Beyoğlu
hinauf. Inzwischen war die brennende Sonne von ungeduldig eiligen Wolken
verdeckt. Es wehte ihnen ein heißer Wind entgegen, wie aus einem Backofen. »Da kommt
ein Sturm auf!« dachte Nigân. Als Ayşe
gleich in Richtung Taksim gehen wollte, sagte Nigân: »Nein, da lang. Wir kaufen
noch Süßigkeiten.«
    »Gehen wir denn nicht heim?«
    In Nigân machte sich schon wieder
Unmut breit. Sie hatte Nachsicht mit Kindern, aber nicht, wenn sie ungezogen
waren!
    »Erst gehen wir zu Lebon!« erwiderte
sie heftig. »Das ist mit deiner Tante Leylâ so ausgemacht. Danach gehen wir
heim.«
    Ayşe verzog das Gesicht, und
Perihan sprach besänftigend auf sie ein. Nigân hatte wieder das Gefühl, dass
von Kindern doch keinerlei Dankbarkeit zu erwarten war. Sie sah zur Seite, auf
die Schaufenster.
    Es war nichts Besonderes darin zu
entdecken. Nach ihrer Rückkehr von Heybeliada hatte sie lange nach einem
Vorhangstoff für das Schlafzimmer gesucht, aber nichts
Anständiges gefunden. Auch während der Klavierstunde war sie mit Perihan wieder
in so und so vielen Geschäften gewesen und hatte nichts anderes aufgetan als
etwas blaugeblümten Kattun. Es gab rein gar nichts in den Läden. Überhaupt war in
der ganzen Türkei nichts Rechtes zu bekommen. Hier etwa, in dem ach so
berühmten Geschäft von Hristodiadis: Was sollte einen schon ansprechen in
diesem Schaufenster? Die unansehnlichen, ungeschickt drapierten Stoffe aus
einheimischer Produktion, die schneller verblassten, als man schauen konnte?
Die Konfektionsware, zur Schau gestellt von griesgrämigen Schaufensterpuppen?
Nichts gab es, nichts. Richtig wütend konnte Nigân da werden. Sie entfernte
sich von dem Schaufenster.
    Ayşe und Perihan waren mittlerweile
wie vom Erdboden verschwunden. »Was soll das nun wieder!« Nigân spähte in
Richtung Tunnel, aber was sie da an schemenhaften Passanten sah, waren jeweils
andere Menschen. Als sie zum gegenüberliegenden Gehsteig hinübersah, erging es
ihr nicht anders. Da erblickte sie plötzlich auf ihrer Seite Ayşes Zöpfe. Die beiden jungen
Frauen standen mit zusammengesteckten Köpfen da, und Nigân hatten sie wohl ganz
vergessen. Als Nigân auf sie zuging, kämpfte sie zwar gegen das Gefühl an,
schnöde übergangen worden zu sein, aber vergebens. Schließlich bemerkten die
beiden, dass Nigân nicht da war, und blickten sich suchend um. Dann sahen sie
sie und warteten.
    Als Nigân bei ihnen ankam, fragte
sie streng: »Was habt ihr denn so getuschelt da?«
    »Nichts!« erwiderte Perihan.
    Nigân runzelte die Stirn. Ayşe
machte einen so schuldbewussten Eindruck, dass Nigân nicht lockerließ.
    »Ihr wart völlig vertieft in euer
Gespräch! Also, worum ging es da?«
    Ayşe straffte sich.

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