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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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»Warum holt
ihr mich immer ab? Ich kann doch auch allein nach Hause! Von der Schule zur
Klavierstunde gehe ich ja auch allein!«
    Das war es also! Sie wollte von
ihrer Mutter nicht abgeholt werden! Nigâns Wut fuhr ihr durch den ganzen
Körper. Sie merkte, wie ihre Mundwinkel zitterten. Das also war es! Es kamen
viele Passanten vorbei, aber am liebsten hätte
Nigân einfach losgeschrien und ihrer undankbaren, respektlosen Tochter auf
offener Straße eine Lektion erteilt, die sie so schnell nicht vergessen würde. Der
Himmel war nun voller gelber Wolken, vor einem Fenster flatterten Tauben auf.
Sie standen eigentlich schon vor der Konditorei, und als auf einmal eine Bö
aufkam, ging Nigân mit fahrigen Bewegungen hinein. Tochter und Schwiegertochter
folgten ihr.
    Sie setzten sich an einen kleinen
Tisch und bestellten bei der Kellnerin Tee und Kuchen. Und schwiegen sich erst
einmal an. Nigân war klar, dass sie den Konditoreibesuch diesmal nicht würde
genießen können. »Es passt ihr nicht, dass wir sie abholen!«
    »Warum soll ich dich nicht abholen?«
    Ayşe antwortete nicht, sondern
sah nur betreten vor sich hin. Sie war sich wohl ihrer Schuld bewusst.
    »Warum nicht? Warum?« Um aus dem
Mädchen etwas herauszubekommen, musste man jede Frage immer fünf-, sechsmal
stellen.
    »Raus mit der Sprache, warum willst
du das nicht? Schämst du dich vielleicht deiner Mutter? Nun sag schon!«
    Mit nörgelnder Stimme sagte
Ayşe schließlich: »Mir ist das eben peinlich!«
    »Peinlich! Und warum bitte? Kannst
du mir verraten, warum ich dich nicht abholen soll, nachdem ich mich so bemüht
habe, diesen Klavierlehrer für dich zu finden? Da wird alles für dich getan,
und dann ist dir das peinlich! Warum bitte schön?«
    Ayşe fing an zu weinen.
    »Das hat gerade noch gefehlt!«
dachte Nigân. »Noch dazu vor allen Leuten!« Diskret sah sie sich um. Am Fenster
saß ein eleganter Herr und las Zeitung. An dem Tisch links von ihnen tranken
zwei Frauen Tee und kicherten. Nigân äugte besorgt zu ihnen hinüber, doch
schienen sie nichts bemerkt zu haben. »War ich vielleicht zu grob?« fragte sie
sich. Aber sie hatte es einfach satt. »Wir müssen sie endlich verheiraten! Und
zwar so bald wie möglich. Wenn sie nicht heiratet, wird sie nur ein
weinerliches Nervenbündel. Wie sie schon dasitzt! Und so was will sechzehn Jahre
alt sein! Genau, heiraten muss sie!«
    Ayşe ließ Kopf und Schultern
hängen.
    »Jetzt wisch dir wenigstens die
Tränen ab! Schau, da kommt unser Tee!«
    Es wurde ihnen auch der Kuchen
serviert, doch die Stimmung war ihnen verhagelt. Der Anblick der schönen Tassen
heiterte sie auch nicht auf. So begannen sie schweigend zu essen. »Jetzt
löffeln wir hier drauflos, ohne auf Leylâ zu warten«, dachte Nigân, aber sie
selbst scherte sich auch nicht darum. »Mit wem sollen wir das Mädchen bloß
verheiraten?« Erst gedachte sie, sich mit Cevdet zu besprechen, aber davon kam
sie gleich wieder ab. Cevdets einzige Schwäche war dieses verwöhnte Mädchen.
Sobald von Heirat die Rede war, würde er wieder die Stirn runzeln, ganz
melancholisch werden und behaupten, dass es doch noch zu früh dafür sei.
Ayşe wischte sich die Augen mit den Händen ab, anstatt ein Taschentuch
hervorzuholen. Perihan sah ganz unglücklich drein. »Mit wem bloß, hm, mit wem?«
Vor ihrem geistigen Auge ließ sie alle Verwandten und Bekannten vorbeiziehen,
die heiratsfähige, gutausgebildete Söhne hatten. »Wie wäre es mit Rezans
Ältestem? Oder mit Refıks Freund Ömer?« Sie schnitt ihren
Schokoladenkuchen in ganz kleine Stücke, nippte an ihrem Tee und summte vor
sich hin: »Wem sollen wir sie geben? Wem nur? Dem jüngeren Sohn von Nusret? Was
studiert eigentlich Sabihas Junge in Paris?« Darüber vergaß sie ihre Wut, und
so labte sie sich an dem Kuchen und an ihren Erwägungen. Sie blickte auf ihre
betreten dasitzende Tochter und ging dabei in Gedanken einen Schwiegersohn nach
dem anderen durch.
    Da ging die Tür auf, und mit
energischen Schritten kam Leylâ herein. »Ja natürlich, der Sohn von Leylâ!« kam
Nigân die Erleuchtung. »Remzi!« Sie versuchte sich an den jungen Mann zu
erinnern, den sie zuletzt beim Opferfest gesehen hatte. Leyla kam lachend auf
sie zu. »Wir müssen uns umarmen!« dachte Nigân und beugte sich zu Leyla vor.
Deren Wangen war ganz heiß und verströmten einen sanften Duft. Nigân sah Leyla
zu, wie sie Perihan und Ayşe umarmte. Genau, Remzi war der Richtige. Leyla
setzte sich zu ihnen. Sie war so

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