Cevdet und seine Soehne
Haus in Vefa, meinen Bruder, das Gespenst!« Er blickte zu
den Kindern, nahm sie aber gar nicht wahr, denn vor seinem inneren Auge
purzelten die Bilder nur so durcheinander: Er sah, wie sein Vater starb, wie er
dann das Eisenwarengeschäft vergrößerte, wie er nach Anatolien zu liefern
begann, wie sein Bruder todkrank im Bett lag, wie ihm der kleine Ziya
anvertraut wurde, wie er Nigân heiratete, wie er wegen des Zuckergeschäfts İsmail Hakkı Paşa besuchte, wie er
ein gemütliches Heim in Nişantaşı und eine Familie wie in jenem
Buch wollte, aus dem er Französisch lernte.
Nigân rief: »Leg das weg, du machst
dich ja ganz schmutzig!«, und Cemil warf daraufhin einen verdreckten Stock weg.
Cevdet sagte leise zu seiner Frau:
»Mir ist kalt, gehen wir nach Hause!«
Nigân schmiegte sich noch enger an
ihn.
Auf dem Heimweg wurde Cevdet wieder
von Bildern bedrängt, versuchte aber erst gar nicht, ihrer Herr zu werden. Und
hin und wieder musste er an das Gespenst denken. Er wollte Osman wieder
vorschlagen, Ziya ein wenig Geld zu geben, doch sein Sohn würde sich darauf
nicht einlassen. Um nicht so zu frieren, rieb sich Cevdet die Arme, doch
erschöpfte ihn das sogleich. Als an der Haltestelle Teşvikiye gerade eine
Trambahn einfuhr, erwog er kurz, einzusteigen, ließ es dann aber. Nach dem
Essen würde er unbedingt seinen Mittagsschlaf halten. Keiner sprach mehr etwas;
selbst die Kinder waren müde und rührten sich von ihren Großeltern nicht mehr
weg. Cevdet suchte Trost im Gedanken an das Mittagessen.
Als sie an der Moschee vorbeikamen,
begann sich in seinen schwammigen Gedanken ein kleiner Fleck breitzumachen: »Ob
ich wohl jemals wieder zum Opferfest in der Moschee beten werde?« Er hatte
diesmal auf dem kalten Moscheeteppich zwar jämmerlich gefroren, sich aber an
dem Gedanken aufgerichtet, den Schmerz stoisch ertragen zu haben. Der Fleck
wurde immer größer: »Und ob ich wohl Refıks Kind noch sehen werde?«
Perihan hatte zwei Monate zuvor verkündet, sie sei schwanger. »Und den
Firmenumzug nach Karaköy?« Diesem hatte er sich vergeblich entgegengestemmt,
wäh rend er nun so tat, als habe er sich damit abgefunden. Als sie wieder an
der Polizeiwache vorbeikamen, dachte er: »Ich muss schleunigst diese Memoiren
schreiben! Soll ich im Garten einen Eibisch pflanzen? Hm, wie heißt der noch
mal auf latein? Lonicera capri … Oder ist das nicht das Geißblatt? Althea
officinalis!«
Plötzlich vernahm er hinter sich
einen geröchelten Ruf: »Cevdet!«
Er drehte sich um. »Oje, wie sieht
Seyfı Paşa denn aus!« dachte er. Seyfı Paşa war ein Freund
von Nigâns Vater und Sultan Abdülhamits früherer Gesandter in London gewesen.
Er hätte es noch weiter bringen können, doch nach Wiedereinführung der
Konstitution war ihm ein Schattendasein beschieden.
»Wie geht es Ihnen, Seyfı
Paşa?« fragte Cevdet.
Der Paşa wandte sich allerdings
sogleich an Nigân. »Na, mein Mädchen, wie steht es so?«
Nigân löste sich von Cevdets Arm und
bot dem Paşa ehrerbietig die Hand.
Mehr denn je röchelnd, rief
Seyfı Paşa: »So Leute wie deinen Vater gibt es heute nicht mehr! Was
war dieser Şükrü Paşa doch für ein Mensch! Gibt es heute nicht mehr!«
In dieser Art redete er noch eine Weile fort. Obwohl er auf seinen Diener
gestützt dastand, sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte und sein Gesicht
einer unansehnlichen Hundeschnauze glich, genoss er immer noch hohes Ansehen.
Auch Cevdet konnte nicht umhin, ihm
seine Bewunderung zu zollen. Ȇber neunzig muss er sein! Tja, solche Leute
werden eben alt, weil sie nie von Kaufmannssorgen geplagt wurden. Ich werde
bestimmt noch vor ihm sterben. Warum hat Nigân ihm denn die Hand geküsst?«
»Ach, was für ein Mensch dein Vater
war!« sagte der Paşa wieder. »Solche richtigen Menschen gibt es heute gar
nicht mehr!« Und zu Cevdet gewandt: »Nun, das Geschäft den Herren Söhnen
überlassen?« Er wackelte mit dem Kopf hin und her. »Frische Luft geschnappt,
was? Ha!« Sein geröcheltes Lachen ging in ein geröcheltes Husten über.
Cevdet brachte nur ein leises »Ja!«
hervor. Er fühlte sich gedemütigt, wusste aber, dass dagegen nichts zu machen
war.
Seyfı Paşa wandte sich wieder
Nigân zu und erkundigte sich nach ihren Schwestern. Dann fragte er
noch nach anderen Verwandten und Bekannten, die er dann auch jeweils als
»richtige Menschen« bezeichnete. Nach einer Weile schien er genug zu haben. Er
schimpfte mit seinem Diener, weil der ihm nicht still genug
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