Cevdet und seine Soehne
aber
dann fiel sein Blick auf das Bild seines Vaters, das im Bücherregal stand, und
er blieb sitzen. Seine Mutter hatte das silberngerahmte Foto fünf oder sechs
Jahre zuvor dort hingestellt, und Muhittin hatte es seitdem nicht angerührt.
Leutnant Haydar war darauf in Uniform und mit seinem Degen abgebildet. Als er
die Aufnahme in Beyoğlu hatte machen lassen, war er noch nicht pensioniert
gewesen, doch kurz darauf schon hatte er jedermann mitgeteilt, dass er müde sei
und sich zurückziehen wolle, und so hatte er den Dienst quittiert und war nicht
in den Befreiungskrieg gezogen. Während des Weltkriegs hatte er mit der 7.
Armee in Palästina gekämpft und sich einen Ruf als Scharfschütze erworben, so
dass Muhittin, als vor drei Jahren das Namensgesetz in Kraft getreten war, im
Andenken an seinen Vater den Namen Nişancı – »Schütze« – gewählt hatte,
den er für einen Dichter auch irgendwie passend
hielt. Die Denkerpose, in die der Scharfschütze Haydar sich für das Foto
geworfen hatte, fand Muhittin einfach nur lächerlich. Der selbstbewusste Blick,
das feine Lächeln, das seine Lippen umspielte, der an den Enden nach oben
gezwirbelte Schnurrbart, der zu lang wirkende Degen, den er nach hinten
geschoben hatte, und die auf einem Tischchen ruhende kurzfingrige Hand: Das alles
machte im Grunde einen armseligen Eindruck. Jedesmal wenn Muhittin das Foto
sah, dachte er darüber nach, was er tun musste, um nicht so zu werden wie sein
Vater, und manchmal packte ihn dabei das schiere Entsetzen. Was ihn da aus dem
Silberrahmen heraus anblickte, stand Muhittin für das verpfuschte Leben eines
Menschen, der stets in besorgter Erwartung seine Soldatenpflicht, aber nie
einen Blick hinter die Oberfläche der Dinge getan hatte. Und noch dazu hatte
Muhittin, um das zu erkennen und sich von der Bewunderung für den Vater zu
lösen, achtzehn Jahre alt werden müssen; da war sein Vater schon vier Jahre
tot. »Was soll ich nur machen?« seufzte er, aber wieder ohne rechte
Gemütsbewegung, nur aus einer inneren Unruhe heraus, die ihm schon zur
Gewohnheit wurde. Er ahnte, dass er wieder nur dasitzen, auf das Bild starren
und mit anwachsender Besorgnis an das Leben und die vor ihm liegenden Jahre
denken würde. Er sah auf die Uhr und beschloss, sich lieber gleich für die
Verlobung vorzubereiten und sich in Beşiktaş rasieren zu lassen.
Nachdem er sich umgezogen hatte,
ging er in die Küche, wo seine Mutter zum Fenster hinausgebeugt mit der neuen
Nachbarin sprach.
»Ihre Blumen sind aber schön geworden!« sagte diese.
»Ja, schon, aber die da blühen
nicht!« erwiderte die Mutter und wies auf ein paar Töpfe auf dem Fensterbrett.
Als sie merkte, dass Muhittin in der Küche stand, drehte sie sich zu ihm um.
Sie musterte ihn von oben bis unten und gab mit anerkennender Miene zu
verstehen, dass sein Aufzug ihr zusagte. Zufrieden sagte sie: »So, dann gehst
du also. Viel Spaß!«
Muhittin spürte, wie seine Mutter
sich freute, dass ihr Sohn sich zu einem Vergnügen aufmachte und glücklich sein
würde, und wie sie sich befriedigt den Salon vorstellte, in dem ihr Sohn unter
anderen glücklichen Menschen den Abend verbringen würde.
Als er draußen durch die Straßen
ging, fand er zu etwas innerer Ruhe zurück. Hin und wieder grüßte er einen
Bekannten. »Ob sie bei der Verlobung wohl Alkohol servieren? Bin neugierig, was
Ömer beim Ringetauschen für ein Gesicht macht. Ich muss mich so hinsetzen, dass
ich unseren Eroberer dabei gut beobachten kann!« Wenn er gegrüßt wurde, dachte
er, dass er nun elegant aussah und die Leute ihm Achtung zollten, weil er ein
junger Ingenieur war und als intelligent galt. Ansehen genoss er auch bei
Freunden seines Vaters, bei alten Leuten, die ihn schon als Kind gekannt
hatten, bei den zwei Soldaten, die ihn regelrecht bewunderten, und bei dem
alten Friseur, zu dem er seit Jahren ging.
Da der Friseur Monat für Monat mit
den neuesten Nachrichten versorgt wurde, wusste er über die Lebensgeschichte
des jungen Ingenieurs bestens Bescheid. Als er Muhittin erblickte, lachte er
ihn erfreut an.
»Rasieren?« Er holte aus einer
Schublade einen sauberen Umhang hervor und erkundigte sich nach Muhittins
Mutter.
Muhittin konnte sich noch gut
erinnern, wie er schon als Kind hierhergekommen war. Damit er überhaupt in den
Spiegel sehen konnte, hatte der Friseur damals auf die Armlehnen des Friseurstuhls
ein Brett gelegt und die Sitzfläche mit einer Zeitung bedeckt, damit sie von
Muhittins Schuhen
Weitere Kostenlose Bücher