Cevdet und seine Soehne
so einem Tag in Beşiktaş
ein Glas trinken gegangen, aber nun stand die Verlobung an. Ihm graute schon
vor dem feierlichen Getue. »So geht wieder ein Tag vorbei. Und ich habe mir
doch geschworen, mich umzubringen, falls ich bis dreißig nicht ein guter
Dichter bin!« Im Rückblick kam ihm dieser Gedanke wie ein Scherz vor, ein aus
jugendlichem Übermut entsprungener Scherz, dem einfach mit Nachsicht zu
begegnen war, doch konnte er nicht umhin, immer wieder auch die entsprechende
Rechnung aufzumachen: »Mit dreißig … Also 1940 … Jetzt ist Frühjahr 1937,
also sind es noch drei Jahre bis dahin. Und mein immer noch unveröffentlichter Gedichtband
ist nicht einmal was Besonderes. Also gibt es in den drei Jahren noch viel zu
tun.«
Drei Jahre nur noch. Also hatte er
sieben von den zehn Jahren schon verkonsumiert und noch dazu, ohne sie zu
genießen. Wie hätte er ahnen können, dass es so schnell gehen würde! Selbst die
zwei Jahre, die ihn damals noch vom Ingenieurdiplom trennten, waren ihm
unendlich lang vorgekommen. Die Kommilitonen, die in den Pausen im Gang Fußball
und auf den Zeichentischen mit Münzen spielten und dann abends nach Beyoğlu
ins Kino gingen, verachtete er nur und erklärte hochtrabend, er hingegen sei
ein Dostojewski. Mit Refık und Ömer schien er die gleichen Prinzipien zu
teilen: ein spöttisches Herabsehen auf alles, was sie geringschätzten. Sie
glaubten an Intelligenz und Toleranz, oder zumindest kam es Muhittin so vor.
Als sie eines Abends in Beyoğlu besonders viel getrunken hatten, hatte
Muhittin seinen Selbstmordbeschluss verkündet und damit die erwartete Resonanz
ausgelöst. Man nahm es mit Achtung auf an dem Tisch, ohne dass jemand sich
überrascht oder bewundernd geäußert hätte. Alles jenseits der Dreißig schien
leicht entbehrlich zu sein. Keiner war der Ansicht, dass danach überhaupt noch
ein Leben stattfand.
»Mit dreißig! In drei Jahren!« Ein
alter Mann mit Hut kam auf der Straße vorbei. Er mochte um die sechzig sein.
Unter den Arm hatte er Zeitungen geklemmt. Vermutlich kam er aus einem
Kaffeehaus, hatte dort unter dem Geschepper der Tavlaspieler seine Zeitung
gelesen, sie dann gegen die Zeitungen anderer Rentner eingetauscht, bis er alle
Meldungen des Tages durchhatte. Nicht anders hatte es Muhittins Vater gehalten,
als er pensioniert worden war. Der war auch in die Moschee gegangen. Muhittin
überlegte, ob der alte Mann auf der Straße wohl ebenfalls in die Moschee ging
und ob er ihn in der Stadt schon mal gesehen hatte. Dann setzte er sich wieder
an den Schreibtisch. Er wusste zwar, dass er nichts mehr zu Papier bringen
würde, doch war es immer noch besser, am Schreibtisch zu sitzen, als zum
Fenster hinauszustarren.
Auf dem Tisch lagen Zeitungen,
Zeitschriften, Zigaretten, Stifte und Papiere voll unvollendeter Gedichte wild
durcheinander. Aus einem überquellenden Aschenbecher drang penetranter Geruch.
»Das ist also alles! Ein stinkender Aschenbecher! Zerknülltes und zerfetztes
Papier … Zeitschriften … Was mache ich mir eigentlich vor? Das ist alles,
was mir bleibt von einer Welt, die ich verachte. Und natürlich noch die
Ingenieurplackerei, mit der ich mein Geld verdiene …« Aufs Geratewohl schlug
er eine der Zeitungen auf. »Der Ministerpräsident ist in Paris mit
französischen Staatsmännern zusammengetroffen – Das Bemühen um die Provinz
Hatay hat zu den gewünschten Ergebnissen geführt – In Frankreich wurde dem
Kabinett Blum mit 38o Stimmen das Vertrauen ausgesprochen – Zwei türkische
Filme im Saray-Kino – Olivenmangel treibt Seifenpreise in die Höhe – Doktor
Lokmans Ratschläge – Eine Ansicht des von Frankisten verwüsteten Guernica – Eine Neuheit
bei den Brüdern Burla: Kühlschränke – Die Börse: Pfund Sterling
620, Dollar 123, Gold 1059 … – Nervin: Gegen Nervenschmerzen, nervösen
Husten, Mattigkeit und Schlaflosigkeit …« Muhittin dachte: »Da sitze ich und
lese dieses Zeug!« Muhittins Vater hatte als Pensionär immer sämtliche
Zeitungen durchforstet, um den Klatsch ausfindig zu machen, der ihm den Tag ein wenig versüßte. »Was soll ich nur
tun? Wie soll man leben?« fragte sich Muhittin, doch ohne innere Anteilnahme.
Es waren dies doch nur Worte, und die Verzweiflung, die dahinter hätte stecken
müssen, das suchende Begehren, die verspürte Muhittin nicht. Er war ja Dichter
und wusste, dass Worte einen Wert an sich darstellten, doch dahinter fand er
selbst nicht viel.
Schon wieder wollte er aufstehen,
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