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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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nicht beschmutzt wurde. Bei den ersten Friseurbesuchen hatte
Muhittin noch geweint, und der Friseur hatte ihm gut zugeredet: »Na, ein
Soldatensohn weint doch nicht!« Danach hatte seine Mutter ihn immer dem Friseur
übergeben und war, klein und schmächtig in ihrem weiten Çarşaf, mit hastigen Schritten einkaufen
gegangen. Einmal war er mit seinem Vater gekommen, und der war vom Friseur
äußerst ehrerbietig behandelt worden. Der Friseur brachte damals dem Leutnant
Haydar Achtung entgegen, und nun eben dem Ingenieur Muhittin. Während er
Muhittin sorgsam das Gesicht einseifte, versuchte er, Details über seine Arbeit
aus ihm herauszukitzeln, und tat so, als hätte er längst vergessen, dass dieser
Ingenieur als Kind bei ihm im Laden einst geweint hatte.
    Muhittin steckte die Arme unter den
weißen Umhang und dachte: »Ich fühle mich hier wieder wie ein kleiner Junge!«
Er überließ seinen Körper dem Friseur, und der stellte seinen Kunden
gewissermaßen im Schaufenster aus, und während er wie bei allen anderen auch
Informationen und Gerüchte mit ihm austauschte, wurden die beiden von den
Passanten draußen beäugt. Wenn Muhittin an dem Friseurladen vorbeikam, sagte er
sich etwa: »Ah, der Sekretär Hüsamettin lässt sich rasieren!« Und nun sagten
sich eben die Spaziergänger draußen: »Ah, der Ingenieur Muhittin lässt sich
rasieren!«
    »Tja, ein Ingenieur, der Ingenieur
Muhittin, das bin ich nun mal!« Ein Ingenieur, aber kein besonders
gutaussehender; klein, mit Brille und einem so unwirschen Gesicht, dass er bei
seinen Mitmenschen Furcht erwecken konnte oder Bewunderung, aber nicht gerade
Liebe. Er sah in den Spiegel, musterte seine Brille, die ihm vorkam wie zwei
abgeschlagene Flaschenböden, und während er hin und wieder den Friseur mit
einer Antwort abspeiste, suchte er nach einer ihm eigenen Existenz. »Das also
bin ich. Ein Ingenieur. Im Jahre 1937, in einer der Städte dieser
Welt, hier, in Istanbul, in Besiktas, in einem Friseurstuhl, brav dasitzend in
meinem weißen Umhang, wie andere Kunden auch … Ich, Muhittin, der Ingenieur
… Der sich be müht, ein guter Dichter zu sein, wozu es ihm aber an
Willenskraft und an Arbeitseifer mangelt; ein lediger, intelligenter junger Mann,
der sich zur Verlobung eines Freundes aufmacht, ungeduldig wegen seines noch
immer nicht veröffentlichen Gedichtbandes, in Sorge um seine Zukunft, ich,
Muhittin Nişancı …« Er wandte den Blick vom Spiegel ab. »Nein, ich
will jetzt an gar nichts denken! Ich will mir diese Verlobung anschauen und
mich amüsieren. Und nicht immer grübeln, was ich bin und wer ich bin und was
aus mir werden soll!« Er fuhr so heftig zusammen, dass das unter seinem Ohr
herumfuhrwerkende Rasiermesser innehielt.
    Der Friseur sah mit einem
verständnisvoll-fragenden Blick in den Spiegel. Auch Muhittin sah in den
Spiegel, aber er wollte sich darin nicht sehen, auch nicht, als der Friseur
noch einmal Seifenschaum zugab. Unruhig saß Muhittin bis zum Ende der Prozedur
da, lauschte auf das Kratzen des Rasiermessers und versuchte sowenig wie
möglich zu denken.
    Als er den Laden verließ, stieg er
sofort in ein Taxi. Den Fahrer kannte er aus Besiktas, und auch diesem war das
Gesicht des Ingenieurs schon vertraut. Um sich abzulenken, schwätzte Muhittin
mit dem Mann über Fußball, die hohen Preise, die schlechten Autofahrer
ringsherum.
    Das Apartmenthaus in Ayazpaşa
hatte ihm Refık beschrieben. »Ich komme zu spät!« dachte Muhittin, als er
die Treppe hinaufstieg. Er hatte so ein vages Gefühl, als hätte er alles
Sehens- und Erlebenswerte schon verpasst. Beim Klingeln an der Wohnungstür
dachte er bestürzt an die vielen Leute, die ihn gleich anstarren würden. Er
würde gemustert und angelächelt werden und seinerseits die anderen mustern und
anlächeln. Eine ihm unbekannte Frau ließ ihn ein. Er mischte sich unter die
Leute und suchte nach einem Sitzplatz.
    In dem Salon saßen die Frauen und
Mädchen auf der einen, die Männer auf der anderen Seite. Es hatte ihnen wohl
kaum jemand diese Sitzordnung auferlegt, und den meisten war vermutlich durch
den Kopf gegangen, dass es zeitgemäßer und vernünftiger gewesen wäre, gemischt
zu sitzen, doch irgendwie hatte es keiner gewagt, als erster die entstandene
Regel zu durchbrechen. Ein Grammophon spielte, und alles flüsterte in
gespannter Erwartung. Muhittin sah Refik und Perihan mit ihrem gewölbten
Bauch. Aus einer Tür erschien kurz Ömer, winkte Muhittin zu, ging aber nicht zu
ihm. Muhittin

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