Chalions Fluch
durch die Finger. Jede weitere Verzögerung wäre jetzt nur noch grausam. Er fiel vor ihr auf ein Knie und räusperte sich.
»Zuerst einmal, Iselle geht es gut.« Er atmete tief ein. »Die zweite Neuigkeit … Teidez ist vor zwei Nächten gestorben, an einer entzündeten Verletzung.«
Die beiden Frauen, die Ista zur Seite standen, schrien auf und hielten sich aneinander fest. Ista bewegte sich kaum. Sie zuckte nur leicht zusammen, als hätte ein unsichtbarer Pfeil sie getroffen, und tat einen langen, tiefen Atemzug.
»Habt Ihr mich verstanden, Majestät?«, fragte Cazaril zögernd.
»O ja«, hauchte sie und hob einen Mundwinkel. Cazaril konnte es nicht als Lächeln bezeichnen – diese bittere Ironie hatte nichts mit einem Lächeln zu tun. »Wenn man schon allzu lange darauf wartet, kann es eine Erleichterung sein, wenn der Schlag endlich kommt, wisst Ihr. Das Warten hat ein Ende. Nun muss ich keine Angst mehr haben. Könnt Ihr das verstehen?«
Cazaril nickte.
Nach einem kurzen Schweigen, das nur vom Schluchzen einer ihrer Kammerfrauen durchbrochen wurde, fügte Ista ruhig hinzu: »Wie hat er sich diese Wunde zugezogen? Bei der Jagd?«
»Nein, eine Jagd war es eigentlich nicht. In gewisser Weise könnte man es allerdings so nennen …« Cazaril befeuchtete seine Lippen, die von der Kälte aufgesprungen waren. »Herrin, könnt Ihr etwas Merkwürdiges an mir erkennen?«
»Ich bin schon seit Jahren blind. Könnt Ihr sehen?«
Die Betonung machte deutlich genug, was sie sagen wollte. »Ja.«
Sie nickte und lehnte sich zurück. »Das dachte ich mir. Jemand, der mit diesen Augen sieht, hat einen gewissen Blick …«
Eine zitternde Kammerfrau schlich zu Ista und sagte mit übertrieben unbeschwerter Stimme: »Vielleicht solltet Ihr Euch nun zu Bett begeben, Herrin. Eure Mutter wird gewiss bald zurück sein …« Sie warf Cazaril einen viel sagenden Blick über die Schulter zu. Offensichtlich meinte die Frau, Ista würde wieder von einer ihrer verrückten Anwandlungen befallen – oder dem, was jeder für verrückte Anwandlungen hielt.
Cazaril ließ sich auf den Fersen nieder. »Bitte lasst uns jetzt allein. Ich muss mit der Königin unter vier Augen reden, über Angelegenheiten von größter Dringlichkeit.«
»Aber, Herr …« Die Frau brachte ein unaufrichtiges Lächeln zu Stande und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir wa gen es nicht, sie in dieser Stunde der Heimsuchung alleine zu lassen – sie könnte sich etwas antun!«
Cazaril richtete sich zu voller Größe auf, nahm beide Damen bei den Armen und schob sie sanft, aber unerbittlich durch die Tür nach draußen. »Ich werde auf sie Acht geben. Ihr könnt in dem Gemach dort auf der anderen Seite des Flurs warten. Wenn ich eure Hilfe brauche, rufe ich euch, in Ordnung?« Er schloss beide Türen und entzog sich so ihrem Widerspruch.
Ista wartete still. Nur ihre Hände bewegten sich und falteten ein feines Spitzentaschentuch wieder und wieder in immer kleinere Vierecke. Mit einem Ächzen ließ Cazaril sich zu Boden sinken und setzte sich mit überkreuzten Beinen zu ihren Füßen nieder. Er blickte zu ihrem kreidebleichen Gesicht empor und sah in ihre weit aufgerissenen Augen.
»Ich habe die Geister des Zangres gesehen«, sagte er.
»Ja.«
»Mehr noch, ich habe die dunkle Wolke gesehen, die über Eurer Familie hängt. Der Fluch des Goldenen Heerführers, das Verderben von Fonsas Erben!«
»Ja.«
»Ihr wisst also davon?«
»O ja.«
»Er lastet jetzt auch auf Euch.«
»Ja.«
»Er lastete auf Orico und auf Sara. Iselle – und Teidez.«
»Ja.« Sie neigte den Kopf und wandte den Blick ab.
Cazaril dachte an den Schockzustand, den er manchmal bei Männern auf dem Schlachtfeld erlebt hatte – in dem winzigen Augenblick, bevor sie vom Schlag eines Gegners getroffen zu Boden kippten. Männer, die bewusstlos hätten sein müssen, oder gar tot, wankten noch eine Zeit lang umher und verbrachten mitunter außergewöhnliche Leistungen. War diese stille Gefasstheit ein solcher Schock, der bald abklingen würde – sollte er die Gelegenheit nutzen? Hatte Ista jemals wirklich die Fassung verloren? Oder haben wir sie einfach nicht verstanden?
»Orico ist sehr krank geworden. Wie ich selbst das zweite Gesicht erhalten habe, hängt mit dieser finsteren Heimsuchung zusammen. Aber erzählt mir bitte; Herrin, woher Ihr das alles wisst. Was habt Ihr gesehen, und wann, und wie? Ich muss es verstehen! Denn ich fürchte, die Gabe wurde mir verliehen … ist mir zugefallen, damit
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