Chalions Fluch
ich etwas tun kann. Dennoch konnte ich bisher nicht herausfinden, was ich tun soll. Selbst das zweite Gesicht kann die Dunkelheit nicht durchdringen.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich kann Euch die Wahrheit sagen. Ich kann Euch aber nicht lehren, sie zu verstehen. Denn wie soll man etwas lehren, was man selbst nicht kann? Ich habe immer nur die Wahrheit gesagt.«
»Ja. Das habe ich mittlerweile erkannt.« Dann nahm er seinen Mut zusammen. »Aber habt Ihr auch die ganze Wahrheit gesagt?«
Einen Moment lang kaute sie auf der Unterlippe und musterte ihn eindringlich. Ihre zitternden Hände, die scheinbar zu einer anderen Ista gehörten und nicht zu ihrem ausdruckslosen Gesicht passten, falteten den festen Knoten wieder auseinander, zu dem sie das Taschentuch auf ihrem Knie zusammengeknüllt hatte. Langsam nickte sie. Ihre Stimme war so leise, dass Cazaril den Kopf neigen musste, um sie zu verstehen.
»Es begann, als ich mit Iselle schwanger war. Die Visionen. Das zweite Gesicht kam und ging. Ich hielt es für eine Folge meiner Schwangerschaft – bei manchen Frauen hat es Einfluss auf das Denken. Eine Zeit lang konnten die Ärzte mich davon überzeugen. Ich sah die verlorenen Geister umherschweben. Ich sah die dunkle Wolke, die Ias umhüllte, und den jungen Orico. Ich hörte Stimmen. Ich träumte von den Göttern, vom Goldenen Heerführer, von Fonsa und seinen beiden treuen Gefährten, die in seinem Turm verbrannten. Und ich träumte, dass Chalion ebenso brannte wie dieser Turm. Nach Iselles Geburt jedoch endeten die Visionen. Ich dachte, ich wäre vorübergehend nicht bei Verstand gewesen, hätte mich dann aber wieder erholt.«
Sich selbst konnte man nicht mit eigenen Augen sehen, nicht einmal mit dem inneren Auge. Er, Cazaril, hatte Umegat gehabt, hatte Wissen erhalten, das von anderen erworben und ihm als Geschenk überlassen worden war. Wie verängstigt wäre er inzwischen, wenn er immer noch nach Erklärungen für das Unerklärliche suchen müsste?
»Dann wurde ich erneut schwanger, mit Teidez«, fuhr Ista fort. »Und die Visionen wiederholten sich, doch doppelt so schlimm wie zuvor. Die Vorstellung, dass ich auf diese Weise wahnsinnig war, wurde unerträglich. Erst als ich drohte, mir selbst das Leben zu nehmen, gestand mir Ias, dass es der Fluch war, und dass er davon wusste. Er hatte es immer gewusst!«
Wie schrecklich betrogen hätte Cazaril sich gefühlt, hätte er herausfinden müssen, dass diejenigen, die die Wahrheit kannten, sie verschwiegen und ihn in schrecklicher Angst und Unsicherheit gelassen hatten?
»Ich war entsetzt, meine Kinder in dieser furchtbaren Gefahr zu sehen! Immer wieder betete ich zu den Göttern, den Fluch von uns zu nehmen oder mir zu verraten, wie er gebannt werden könnte. Ich betete, dass sie die Unschuldigen verschonten.
Dann, als ich hochschwanger mit Teidez war, kam die Sommermutter zu mir. Nicht in einem Traum, nicht im Schlaf, sondern als ich hellwach und nüchtern war, im hellen Tageslicht. Sie stand so nahe bei mir wie Ihr jetzt, und ich fiel auf die Knie. Ich hätte Ihr Gewand berühren können, wenn ich es gewagt hätte. Ihr Atem war so wohlriechend wie der Duft wilder Blumen auf einer Sommerwiese. Ihr Gesicht war so wunderschön, dass meine Augen es nicht fassen konnten – es war, als würde man direkt in die Sonne blicken. Und ihre Stimme war Musik.«
Istas Gesichtsausdruck entspannte sich. Selbst jetzt noch zeichnete sich für einen Augenblick der Friede dieser Vision auf ihrem Gesicht ab – ein flüchtiges Aufblitzen von Schönheit, wie die Reflexion eines Sonnenstrahls auf dunklen Fluten. Dann aber kniff sie die Brauen wieder zusammen, beugte sich vor und schien noch düsterer, noch eindringlicher zu werden.
»Sie ließ mich wissen, dass die Götter versuchten, den Fluch zurückzunehmen … dass er nicht in diese Welt gehört … dass er eine Gabe an den Goldenen Heerführer war, die von diesem unsachgemäß verschüttet wurde. Sie sagte zu mir, die Götter könnten den Fluch nur durch den Willen eines Mannes zurückholen, der drei Mal sein Leben für das Königshaus von Chalion opfert.«
Cazaril zögerte. Das Geräusch seines eigenen A tems in der Nase wirkte laut genug, diese leise Stimme zu übertönen. Und doch konnte er die Frage nicht zurückhalten, die sich ihm aufdrängte; zugleich verfluchte er sich selbst, dass er sich wie ein Dummkopf anhörte. »Ah … Ich nehme an, es reicht nicht aus, wenn stattdessen drei Männer jeweils einmal ihr Leben
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