Chalions Fluch
gepackten Taschen und Truhen davongeritten war. Er hinterließ einen Haushalt in Auflösung und einen Kamin voll mit der Asche verbrannter Papiere.
Cazaril versuchte, Iselle davon abzubringen, dies als Beweis für die Schuld des Richters anzusehen. Damit jedoch überstrapazierte er selbst sein bedächtiges Urteilsvermögen. Die andere Möglichkeit – dass Iselle an diesem Tag tatsächlich von der Göttin berührt worden war – stimmte ihn nachdenklich. Die gelehrten Theologen der heiligen Familie versicherten den Menschen, dass die Götter auf subtile Weise wirkten, verborgen und vor allem mit sparsamen Mitteln: Sie bedienten sich weltlicher Werkzeuge, griffen aber nicht selbst in der Welt ein. Sogar für die strahlenden, außergewöhnlichen Wunder der Heilung – oder für die finsteren Wunder, die Unglück oder Tod brachten – musste der freie Wille der Menschen dem Guten oder Bösen den Weg bereiten, ehe es wirksam werden konnte. Zu seiner Zeit war Cazaril einigen Menschen begegnet, vielleicht zweien oder dreien, von denen er annahm, sie mochten tatsächlich von den Göttern berührt worden sein. Und einige mehr, die selbst davon überzeugt waren. In der Nähe dieser Menschen war es nie besonders behaglich. Cazaril hoffte inständig, dass die Frühlingstochter mit den Taten ihrer Stellvertreterin zufrieden gewesen und weitergezogen war. Oder einfach nur weitergezogen …
Mit dem Haushalt ihres Bruders auf der anderen Seite des Schlosshofes hatte Iselle wenig zu schaffen, von den Treffen bei Tisch abgesehen, oder wenn sie sich für einen gemeinsamen Ritt ins Umland trafen. Cazaril brachte in Erfahrung, dass die beiden Kinder früher enger zueinander gestanden hatten, bevor die Pubertät einsetzte und sie in die unterschiedlichen Welten von Mann und Frau führte.
Der strenge Privatschreiber und Tutor des Prinzen, Ser dy Sanda, wirkte unnötig beunruhigt von Cazarils Titel als Kastellan. Dy Sanda beanspruchte an der Tafel oder in der Prozession einen höheren Platz als der Privatlehrer der Damen, und das mit einem unaufrichtigen Lächeln, das – bei jeder Mahlzeit! – mehr Aufmerksamkeit auf die Angelegenheit lenkte als zu beschwichtigen es vorgab. Cazaril überlegte, wie er dem Mann erklären sollte, dass ihm dies alles herzlich wenig bedeutete, doch er bezweifelte, dass er sich dy Sanda verständlich machen konnte. Also begnügte er sich damit, das Lächeln des anderen einfach nur zu erwidern – eine Reaktion, die dy Sanda über die Maßen verwirrte, da er ständig irgendeine geschickte Taktik dahinter vermutete. Eines Tages tauchte dy Sanda in Iselles Unterrichtsraum auf und forderte die Rückgabe seiner Landkarten. Offenbar erwartete er, dass Cazaril sie wie geheime Staatspapiere verteidigen würde. Der aber holte die Karten unverzüglich hervor und händigte sie mit freundlichem Dank aus. Dy Sanda musste sich zurückziehen, ohne dass er seinen Ärger auch nur zur Hälfte hätte Luft machen können.
Lady Betriz jedoch war aufgebracht. »Dieser Kerl! Er führt sich auf wie … wie …«
»Wie einer der Schlosskater«, warf Iselle hilfreich ein, »der einen fremden Kater in seinem Revier trifft. Was habt Ihr angestellt, Cazaril, dass er Euch so anfaucht?«
»Ich kann Euch versichern, ich habe ihm nicht unters Fenster gepinkelt«, erwiderte Cazaril tiefernst. Auf diese Bemerkung hin blieb Betriz erst einmal die Luft weg vor Lachen – dieser Stimmungsumschwung gefiel Cazaril schon besser. Anschließend schaute sie schuldbewusst umher, um sicherzugehen, dass die Kammerfrau außer Hörweite war.
War er zu unschicklich gewesen? Cazaril wusste genau, dass er den richtigen Ton gegenüber jungen Damen noch nicht ganz gefunden hatte, aber bisher hatten sie sich noch nicht über ihn beschwert – trotz jener ersten Unterrichtsstunde in Darthacan. »Dy Sanda befürchtet vermutlich, dass ich auf seine Stelle aus bin. Da hat er wohl nicht gründlich genug nachgedacht.«
Oder vielleicht hatte er genau das getan, kam es Cazaril plötzlich in den Sinn. Schon bei seiner Geburt war Teidez nach seinem Halbbruder Orico der Nächste in der Thronfolge gewesen. Damals hatte man dem wenig Bedeutung beigemessen, zumal Orico gerade frisch vermählt war. Doch am Hofe von Chalion musste das Interesse an Teidez gewachsen sein, als die Jahre vergingen und Oricos Königin immer noch kein Kind empfangen hatte. Ein ungesundes Interesse, vielleicht. Womöglich hatte Ista aus diesem Grund die Hauptstadt verlassen und ihre Kinder aus
Weitere Kostenlose Bücher