Chalions Fluch
unten oder zurück.
Die Gesellschafterin der Königin wühlte in ihrem Nähkästchen, murmelte »verflixt« und blickte dann abschätzend zu Cazaril auf. »Lord dy Cazaril«, sagte sie und lächelte einladend. »Wenn es Euch keine Umstände bereitet, könnt Ihr wohl einen Moment hier verweilen und meiner Herrin Gesellschaft leisten, während ich nach oben in mein Gemach eile und mein dunkelgrünes Seidengarn hole?«
»Es ist mir ein Vergnügen, verehrte Dame«, erwiderte Cazaril ohne nachzudenken. »Das heißt, äh …« Er schaute Ista an, die ihn ruhig musterte und dabei einen beunruhigenden Hauch von Ironie zeigte. Na gut, es war ja nicht so, dass Ista zu schreien pflegte oder zu wirrem Gerede neigte. Selbst die Tränen, die er mitunter in ihren Augen gesehen hatte, vergoss sie still. Cazaril verbeugte sich leicht vor der Gesellschafterin, als diese sich erhob. Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn ein wenig vom Rosenspalier fort.
Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Es wird keine Schwierigkeiten geben. Ihr dürft nur nicht Lord dy Lutez erwähnen. Und bleibt in ihrer Nähe, bis ich zurückkomme. Wenn sie selbst wieder anfängt, über den alten dy Lutez zu sprechen, dann … bleibt einfach in ihrer Nähe.«
Sie eilte davon.
Cazaril wog die Gefahren ab.
Der brillante Lord dy Lutez war dreißig Jahre lang der engste Berater des verstorbenen Königs Ias gewesen: Ein Jugendfreund, ein Waffengefährte, ein Zechgenosse. Im Laufe der Zeit hatte der König ihm jede Ehre zukommen lassen, die ihm zu Gebote stand: Er machte dy Lutez zum Herzog über zwei Provinzen, zum Kanzler von Chalion, zum Marschall seiner Gardetruppen und zum Großmeister des reichen Ritterordens des Sohnes – um so alle anderen besser kontrollieren und unter seinen Willen zwingen zu können, wie es hieß. Seine Freunde und Feinde gleichermaßen unterstellten hinter vorgehaltener Hand, dass dy Lutez der König von Chalion sei, in jeder Hinsicht, abgesehen vom Titel, und Ias seine Königin …
Mitunter fragte sich Cazaril, ob es eine Schwäche des Königs war oder Klugheit, wenn er dy Lutez die Drecksarbeit überließ. Immerhin zog dy Lutez sich den Groll der Großen von Chalion zu, während seinem Herrn der Beiname Ias der Gute blieb. Allerdings nicht, wie Cazaril einräumen musste, Ias der Starke, auch nicht Ias der Weise, und schon gar nicht, das wussten die Götter, Ias der Glückliche. Dy Lutez war derjenige gewesen, der Ias’ zweite Ehe mit Lady Ista arrangiert hatte. Damit hatte er sicher auch den hartnäckigen Gerüchten unter den Edlen von Cardegoss entgegenwirken wollen, die eine unnatürliche Liebe zwischen dem König und seinem langjährigen Freund unterstellten. Und doch …
Fünf Jahre nach der Hochzeit war dy Lutez plötzlich beim König in Ungnade gefallen, unversehens und mit tödlichem Ausgang. Er war all seiner Ehren verlustig gegangen. Des Hochverrats angeklagt, starb er unter der Folter in den Kerkern des Zangres, der mächtigen königlichen Burg in Cardegoss. Außerhalb des Hofes von Chalion hieß es, sein wahrer Verrat sei die Liebe zur jungen Königin Ista gewesen. In besser eingeweihten Kreisen ging sehr viel verstohlener das Gerücht, dass Ista letztendlich ihren Ehemann überredet hatte, den verhassten Rivalen um die Liebe des Königs zu beseitigen.
Wie immer dieses Dreieck auch beschaffen gewesen war, die Geometrie des Todes hatte nur noch zwei Punkte übrig gelassen. Und als Ias seinen Lebensmut verlor und kein Jahr nach dy Lutez starb, blieb nur noch Ista übrig, und sie nahm ihre Kinder und floh aus dem Zangre – oder wurde daraus verbannt.
Dy Lutez. Erwähnt nicht dy Lutez. Das bedeutete, einen Großteil der Geschichte Chalions in den letzten anderthalb Generationen unerwähnt zu lassen.
Cazaril kehrte zu Ista zurück und ließ sich ein wenig misstrauisch auf dem leeren Stuhl der Gesellschafterin nieder. Ista war inzwischen dabei, ihre Rose zu zerpflücken – nicht wild, sondern sanft und systematisch. Sie zupfte die Blütenblätter einzeln aus und legte sie neben sich auf die Bank, in einem Muster, mit den sie die ursprüngliche Anordnung nachahmte: ein Kreis in dem anderen, in einer nach innen verlaufenden Spirale.
»Meine Toten haben mich letzte Nacht im Traum besucht«, sagte sie schließlich im Plauderton. »Aber es waren nur falsche Traumgesichte. Werdet Ihr jemals von Euren Toten heimgesucht, Cazaril?«
Cazaril zwinkerte und kam zu dem Schluss, dass sie geistig
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