Champagner-Fonds
Adresse haben.«
»Du meinst, er könnte jemanden zu ihr geschickt haben, um den Hausschlüssel abzuholen?«
Thomas rieb sich nachdenklich das Handgelenk. »Wenn es die beiden waren, die mich in der Mangel hatten, die werden nicht zimperlich gewesen sein.«
Auf der Röntgenaufnahme war keine Veränderung des Handgelenks zu erkennen. Der Orthopäde diagnostizierte eine schwere Sehnenzerrung und schloss einen teilweisen Abriss nicht aus. Der Arm musste ruhiggestellt werden, er kam in eine Schiene und wurde in einer Schlaufe über der Brust fixiert.
Der Arztbesuch hatte länger gedauert als erwartet, sie mussten Yves eine halbe Stunde lang in der Kathedrale warten lassen. Philipp hätte gern mit ihm getauscht und hier nur gesessen und in den Altarraum geschaut und die Glasmalereien des Chors betrachtet. Dabei war er beileibe kein Freund klerikaler Kunst. Dieses Bauwerk jedoch, seine Klarheit, Geometrie und seine kalte Schönheit faszinierten ihn. Es glich in seiner grundsätzlichen Form noch der des 13. Jahrhunderts. Nach Bränden, Orkanen und »architektonischen Verschönerungen« im Verlauf der Jahrhunderte hatte man allerdings Mauern, Pfeiler und die großen Fenster mehrfach restauriert. Den größten Schaden hatte der deutsche Granatbeschuss angerichtet, und es hatte zwanzig Jahre gedauert, bis aus der Ruine wieder die schöne kleine Schwester von Notre Dame in Paris geworden war.
Philipp und Thomas hatten wenig Zeit, um den weiten und hohen Raum des Kirchenschiffs auf sich wirken zu lassen, die »Fenster des Champagners« zu bewundern, wo Dom Pérignon an einem Korken werkelt, der in der Lage war, die Kohlensäure der Flaschengärung zurückzuhalten, und wo die
remueurs
die im Rüttelpult steckenden Flaschen drehen. An den drei Fenstern der Axialkapelle, von Marc Chagall gestaltet, eilten sie vorbei, Yves trieb sie, aber sie würden wiederkommen, wenn ... ja, wenn alles vorbei wäre. Auf dem Weg in der Höhe außen um die Kathedrale, unter verzweigten Strebebögen hindurch und zwischen den Pfeilern, hätte Philipp sich nicht gewundert, Victor Hugos Quasimodo zu begegnen, dem Glöckner von Notre Dame, über einen Wasserspeier gebeugt, die heraufstarrende Menge der Schaulustigen beschimpfend. Philipp hoffte nicht, dass er in eine ähnliche Lage käme, wenn sein Plan nicht aufgehen würde und die Anleger des Champagner-Fonds seinen Kopf fordern würden.
Später saßen sie vor dem Hauptportal auf dem Sockel des Reiterstandbilds von Jeanne d’Arc und beobachteten dieTouristen. Philipp wollte sichergehen, dass kein bekanntes Gesicht darunter war. Touraine würde nicht so dumm sein und hier aufkreuzen. Die beiden Entführer würde Philipp kaum wiedererkennen, der Überfall hatte kaum länger als zwanzig Sekunden gedauert. Thomas jedoch war sich sicher, diese Gesichter nie zu vergessen. Yves war entsetzt und konnte es kaum fassen, welche Wendung die Angelegenheit nahm, die so friedlich begonnen hatte.
»Die Kultur der Lüge greift immer weiter um sich«, sagte er und stand auf. Der Sockel war ihm zu hart. »Sie nennen es Image, sie nennen es Marketing und Werbung, aber in Wahrheit sind das alles Lügen. Dafür bezahlt man Pressesprecher, Regierungssprecher, Sprecher dieses oder jenes Amtes, die sagen das, wofür man sie bezahlt. Ich habe kein Mitleid mehr mit den Menschen, die sich betrügen lassen. Sie wollen daran glauben. Sie wollen zwanzig Prozent Zinsen. Und wenn jemand sich seriös gibt und nur acht bietet, wird er ausgelacht.«
»Goodhouse bietet auch nur acht Prozent«, sagte Philipp.
Yves überhörte den Einwurf. »Wie kann ich euch helfen?«
Philipp bat ihn, alles zu versuchen, damit eine Behörde den Unfall des Generals untersuchte.
Seufzend blickte Yves hinauf zu Jeanne d’Arc auf ihrem Ross. »Vielleicht hilft sie uns wieder. Sie hat Erfahrung im Kampf gegen Engländer, und sie hat gewonnen.«
»Goodhouse mag Engländer sein«, wandte Thomas ein, »aber Touraine ist Franzose und Langer ein Deutscher. Also hör mit diesen blödsinnigen Nationalitäten auf.«
»In Finanzangelegenheiten sind die Engländer seit Margaret Thatcher schlimmer als die Amerikaner«, sagte Yves, ohne sich beirren zu lassen.
Bei ihm wie bei vielen Franzosen saß die Abneigung gegen England tief. Einhundert Jahre lang hatten die Engländer einen Teil Frankreichs besetzt. Einhundert Jahre lang hatten sie Krieg gegeneinander geführt. Dann war Napoleongekommen, dann General Moltke. Erst gegen Wilhelm II. hatten sie
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