Champagner-Fonds
lang, und niemand kommt darauf. Andere koksen, und wenn der Zusammenbruch kommt, sind alle überrascht – weil sie weggesehen haben. Andere wieder zocken im Spielsalon wie die Geisteskranken und bringen ihr Vermögen durch ...«
»Du meinst die Banker und unser Vermögen?«
»Je mehr sie verdienen, desto mehr setzen sie in der nächsten Runde. Wenn sie gewinnen, nennt man es Erfolg. Meiner Ansicht nach sind es psychisch Kranke, sie finden keinen Ort für sich, erreichen keinen Höhepunkt, koppeln sich vom sozialen Leben ab und sind nie zufrieden. Bist du es?«
Die Frage kam überraschend, trotzdem fiel es Philipp leicht, sie zu beantworten. Er lehnte sich zurück, atmete tief durch und sah sich im Raum um. Da hing ein Bild vonFranz Marc, »Der Turm der Blauen Pferde«. Marc war einer der wenigen Künstler, die es geschafft hatten, Pferde nicht kitschig aussehen zu lassen. Das Bild bereitete ihm gute Laune, und er grinste Yves an.
»Zufrieden? Ja, aber, einerseits und andererseits – ich bin ziemlich durcheinander. In letzter Zeit ist viel passiert.« Und er erzählte Yves, was sich in den Wochen zuvor ereignet hatte.
Sie wurden nicht müde, der Champagner hielt sie wach. Als sie irgendwann die Gläser und die leeren Flaschen in die Küche brachten, fiel Philipp ein, was er den ganzen Abend über immer wieder hatte fragen wollen: »Kennst du einen Mann namens Touraine?«
Yves schaute sich um, wo er die Gläser hinstellen konnte. »Wer soll das sein? Ein Produzent, ein Winzer, ein Händler?«
»Ich weiß es nicht, er ist so eine Art Geschäftsführer des Champagner-Fonds, Langer nannte mir seinen Namen.«
»Soll ich mich nach ihm erkundigen?«
»Ich wäre dir dafür sehr dankbar, möglichst gleich morgen.«
Der nächste Tag begann mit Nieselregen. Philipp brauchte zwar keinen Regenschirm, als er aus dem Hause trat, doch er ging zurück und holte die Daunenjacke aus seinem Zimmer und zog sie über das Sakko seines Anzugs, bevor er zum Wagen ging, und schlug den Kragen hoch. Darin war auch eine Kapuze, aber das wäre zu viel gewesen, und er hasste Kopfbedeckungen.
Der Regen veränderte alles. So strahlend das Wetter gestern gewesen war, so unangenehm war es heute. Nicht einmal Hunde zeigten sich auf den Straßen. Avize wirkte traurig und verlassen, die Weingärten hatten sich hinter einem feuchten Schleier versteckt, und niemand arbeitete dort. Sobald der Regen nachließ und die Sonne oder derWind die Trauben trocknete, würden alle ausschwärmen. Wenn es dann schwül wurde, begann die Zeit für Oidium und Pernospera, für den echten und den falschen Mehltau. Gegen diese Pilze besaß die europäische Kulturrebe nicht genügend eigene Abwehr, und in den frühen Morgenstunden kamen die Spritzkanonen zum Einsatz, in der Champagne bis zu acht Mal pro Saison. In windigen und warmen Höhenlagen wurde teilweise ganz aufs Spritzen verzichtet. Aber da wuchsen keine Champagnertrauben. Sorgfalt und Eile waren geboten, bereits ein geringer Pilzbefall auf Beeren und Stielen konnte später die Reintönigkeit des Weins beeinträchtigen.
Das Gelb der Rapsfelder wirkte stumpf, der Regen dämpfte die Farben und Gefühle. Philipp hatte einen Lastwagen vor sich, der ihm den Straßendreck an die Windschutzscheibe schleuderte. Kaum setzte er den Blinker, zog der Lastwagen in die Straßenmitte und ging nur nach rechts, wenn ein Fahrzeug entgegenkam. Erst auf der breiteren Nationalstraße, wo Philipp in einem waghalsigen Manöver sein Leben riskierte, ließ sich der nervtötende Zustand beenden. Dem Motorradfahrer hinter ihm musste es ähnlich ergangen sein, noch dazu wurde er nass.
Philipp ließ Épernay links liegen und fuhr über Avenay-Val-d’Or durch die Montagne de Reims bis zur N 51 und folgte ihr bis Villers-Allerand. Dort, so hatte Langer ihm auf einer Karte gezeigt, lagerten die Flaschen des Champagner-Fonds in dem gemieteten Keller. Er musste riesenhaft sein. »Liegt verkehrstechnisch sehr günstig, direkt an der Route de Champagne«, hatte Langer gemeint, »und kurze Wege verringern die Kosten.«
Eine Mauer umschloss die Kellerei, einige dicht belaubte Bäume ringsum milderten den fabrikhaften Eindruck. Im weiten Hof standen zwei Lastzüge, ein Gabelstapler hob gerade eine mit Flaschen beladene Palette zur Ladefläche. Links standen ausrangierte gelbe Kunststofftanks, danebenlagen riesige verbeulte Gärtanks aus Edelstahl wie achtlos weggeworfene Milchkannen, nur um ein Vielfaches größer. Auf der anderen
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