Champagnerwillich: Roman
stehen. Als Gast einer Singleshow, die Millionen Menschen sehen. Vielleicht entdeckt mich ja ein erfolgreicher Produzent oder ein mächtiger Regisseur, der mich unbedingt für seinen neuen Film haben möchte. Das wäre mein erster Schritt ins Showbiz! Und in ein paar Jahren wohne ich in Hollywood und nehme unter Tränen meinen ersten Oscar entgegen.
» Meine Damen und Herren, ein Traum wird wahr. Und das habe ich alles nur einem Menschen zu verdanken: Nathan Schmidt! Von meiner Dankesrede sind ausgeschlossen: Tanguy Schöneberg, Ursula Granada, Eckhard Besörs …« In dem Moment leuchtet das Wort Hauptbahnhof übermeinem Kopf auf. Panisch drängle ich mich zwischen einem knutschenden Pärchen und einer halben Schulklasse besoffener Teenager hindurch bis zur Tür. Mit einem großen Schritt schreite ich nach draußen.
Aber kaum stehe ich auf dem Bahnsteig, werde ich von einer Unmenge an Hinweisschildern mit kleinen Pfeilen und Symbolen erschlagen. Oje, wo geht’s denn jetzt lang? Ich werfe einen Blick auf den Plan mit Luisas Einzeichnungen und halte ihn mit ausgestrecktem Arm neben die vielen Schilder. Ich drehe ihn einmal, zweimal. Hmmm? Ich werde es mal mit der Treppe da drüben probieren. Ich tippele so graziös und schnell, wie es auf meinen Wildlederpumps möglich ist, auf die Treppe zu. Gerade möchte ich meinen Fuß auf die erste Stufe setzen, als ich von hinten angerempelt werde. Ich schwanke auf meinen 8 Zentimetern nach vorn und nach hinten und wieder nach vorn und …
Oh, nein! Ich verliere das Gleichgewicht und stürze haltlos die Treppe hinab. Ich knalle und falle und wirbele und rutsche in die Tiefe, bis mein Körper am Ende der Treppe mit einem dumpfen Schlag gestoppt wird.
Auf einmal sehe ich lauter kleine Sternchen vor mir. Wie hübsch! Ob man die kaufen kann? Für die Zimmerdecke über dem Bett oder so.
Als ich meine Augen wieder aufschlage, sehe ich verschwommen die Gestalt einer Frau, die mir einen Zettel unter die Nase hält.
»Na, junge Frau. Haben Sie es sich hier unten bequem gemacht? Ich kann das verstehen. Mir ist der Alltag auch oft viel zu stressig. Aber finden Sie doch einen Ausgleich bei den Sprachrohren Gottes . Wenn Sie dieses Blatt hier ausfüllen, können Sie noch heute Mitglied werden, für gerade mal 198 Euro im Monat. Und als Begrüßungsgeschenk erhaltenSie diese selbst geschriebenen 20 Seiten starken Psalme der Sprachrohre Gottes .«
Hä? Schmerzen durchziehen meine Gehirnmasse, und ich merke, dass ich nicht genug Kraft mobilisieren kann, um diese Auserwählte der Sprachrohre Gottes wegzuscheuchen. Auf einmal packt ein Mann die Frau beim Arm und schiebt sie weg.
»Ihr werdet in der Hölle braten, alle werdet ihr in der Hölle braten!«, höre ich sie noch beim Weggehen schreien, während sich der Mann zu mir herunterbeugt.
»Sind Sie okay?«
»Tja, ich weiß nicht so recht, aber ich denke schon.« Langsam robbt sich die Realität wieder bis zu meinem Gehirn vor, und ich blicke dem Mann vor mir vorsichtig in die Augen. In diesem Moment dreht sich mein Herz einmal um die eigene Achse.
»Sie scheinen ja öfter in Schwierigkeiten zu stecken?« Ben reicht mir seine Hand.
»Das kann ich leider nur bestätigen.« Mein Gott, wie peinlich. Warum begegnet er mir ausgerechnet jetzt? Der Mann muss ja langsam denken, ich bin komplett gestört.
»Tut Ihnen etwas weh?« Sanft hebt er mein Kinn und betrachtet die Schrammen in meinem Gesicht.
»Ich glaube nicht.« Ich betrachte Ben, wie er vor mir auf seiner Anzughose kniet, besorgt in mein Gesicht schaut und mit seiner Hand meine sanft umschließt.
»Ich scheine Ihnen kein großes Glück zu bringen!«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin es gewohnt, Hals über Kopf in mein Schicksal zu stürzen.«
Ben blickt mich lächelnd an und drückt fast ungemerkt meine Hand. Ich kann nicht glauben, dass ich mitten im Münchner Bahnhof auf dem Boden sitze, mit einem Wildfremden Händchen halte und dabei mein Herz so wildschlägt wie noch nie in meinem Leben. Mein Gott, ich bin doch nicht etwa verliebt? Zum ersten Mal in meinem Leben VOLLKOMMEN verliebt?
»Ich habe ihn probiert!«, sage ich etwas benommen.
»Sie haben was?«
»Den Vanillejoghurt! Er schmeckt ganz wunderbar.«
»Sie sind wirklich sehr … außergewöhnlich. Kommen Sie, Jil. Ich helfe Ihnen sich hinzustellen.« Vorsichtig legt Ben seinen Arm um meinen Rücken. Beim Aufstehen rieche ich den Duft seiner Haut.
»Geht es? Wie fühlt sich das an?«
»Sehr gut.«
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