CHAMSA - 5 Tage bis zur Ewigkeit (German Edition)
anschließend und trommelte dabei nervös mit den Fingern auf dem
Tisch. »Also, da war ein palästinensischer Junge, der vor ein paar Tagen vor dem
Zaun im Niemandsland stand. Er ist neunzehn und er spricht unsere Sprache … Ich
habe mich einen Augenblick mit ihm unterhalten«, fügte sie leise hinzu. »Leo hat
das nicht gepasst und er hat ihn daraufhin auf das Übelste beschimpft.« Bewusst
verschwieg sie dabei, dass sie den Grenzzaun überschritten hatte. Das wäre
selbst für ihre sonst so verständnisvolle Mutter zu viel des Guten gewesen.
»Das ist schön.
Menschen sind dazu geboren, um sich zu unterhalten. Das unterscheidet uns von
den Tieren«, erwiderte ihre Mutter trocken. Erleichtert atmete Hannah auf.
Gottseidank waren ihre Eltern schon immer verständnisvoll gewesen. Sie achteten
zwar den jüdischen Glauben und hielten sich an die Gesetze der Thora, hatten
sich aber immer bemüht, ihre einzige Tochter tolerant zu erziehen.
Sie ehrten ihren
jüdischen Ruhetag Sabbat, der am Freitag mit der Dämmerung begann und am
Samstagabend endete und an dem normalerweise keiner arbeitete. Da ihre Eltern
jedoch beide Ärzte waren, mussten sie, wie an allen anderen Wochentagen, auch am
Sabbat die normalen Nachtdienste im Krankenhaus übernehmen. So war Hannah es
gewöhnt, viel sich selbst überlassen zu sein.
»Streust du das Salz
rüber und schiebst die Brote rein?«
»Klar.« Vorsichtig
balancierte sie das Blech in den Ofen und stellte die Umluft ein. Anschließend
räumten sie gemeinsam den Tisch ab, bis ihre Mutter mitten in der Bewegung
innehielt und sie ansah.
»Siehst er eigentlich
gut aus, dieser Junge?«
»Mum«, stöhnte Hannah
auf und die Röte schoss ihr in die Wangen. »Deinem Gesicht nach zu urteilen,
muss er bombastisch aussehen«, lachte sie verschmitzt und breitete die Arme aus.
»Komm her.« Hannah schmiegte sich in ihre Arme. Liebevoll strich sie ihrer
Tochter eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Liebling, du darfst
dir das mit Leo nicht so zu Herzen nehmen. Vielleicht hat er im Moment familiäre
Probleme. Ich habe gehört, dass seine Mutter schon seit einiger Zeit nicht auf
der Kinderstation erschienen ist, wo sie als Krankenschwester arbeitet. Seit den
letzten Übergriffen fühlen sich viele Mitarbeiter verunsichert. Im Moment ist
die Situation für niemanden einfach. Trotzdem sind für deinen Vater und mich
immer noch alle Menschen gleich. Im Krankenhaus behandeln wir Juden, Araber,
koptische Christen und Katholiken nach den gleichen Maßstäben. Denn wir alle
sind ein Volk Israels. Wir müssen nur lernen, uns gegenseitig zu respektieren.
Aber es gibt immer Menschen, die eine andere Meinung haben. Jeder fühlt etwas
anderes in seinem Herzen, sei es durch seine Erziehung oder durch den Schatten
des Krieges. Aber mit gegenseitigen Anschuldigungen werden wir den unsinnigen
Hass nicht aufhalten können.« Sie hob Hannahs Kinn an und sah ihr liebevoll in
die Augen.
»Hannah, wir haben dich
zu einem offenen Menschen erzogen und sind sehr stolz auf dich.« Zärtlich strich
sie ihr übers Haar und stockte kurz. »Aber es ist auch ein gefährlicher Weg.
Viele teilen unsere Toleranz gegenüber der anderen Welt nicht. Darum bitte ich
dich, vorsichtig zu sein. Du weißt, dass weder du noch dieser junge Mann die
Grenze vom Niemandsland überschreiten darf, oder?«
Beklommen nickte Hannah
und ignorierte dabei das flaue Gefühl in ihrem Magen, ihrer Mutter nicht die
ganze Wahrheit erzählt zu haben. Schließlich befreite sie sich aus der
tröstenden Umarmung, holte die Brote aus dem Ofen und begann den Esstisch im
Wohnzimmer zu decken. In Gedanken versunken legte sie vor dem Platz ihres Vaters
zwei Berches-Brote auf die silberne Platte und bedeckte sie mit einem kleinen
Tuch. Daneben stellte sie seinen Weinbecher und das Salznäpfchen. Der Wein und
das Brot waren die Hauptbestandteile des Sabbatrituals, da sie den Segen der
Erde symbolisieren. Anschließend stellte sie die Sabbatkerzen in die Mitte des
Tisches.
Kurz darauf erschien
ihr Vater und begrüßte sie mit einem warmen Lächeln, bevor er im Badezimmer
verschwand, um die rituellen Waschungen vor dem Essen zu vollziehen. Eine halbe
Stunde später versammelten sie sich um den Tisch. Ihre Mutter streifte die
Schürze ab und suchte nach den Streichhölzern. Jetzt, da die Dämmerung anbrach
und der Tag in den Abend überging, zündete sie der Tradition entsprechend die
Sabbatkerzen an. Dann hob
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