CHAMSA - 5 Tage bis zur Ewigkeit (German Edition)
ohne nachzudenken entschlüpft waren. Hakim sah sie mir einem unergründlichen
Seitenblick an und drückte mit einer zärtlichen Geste ihre Hand.
»Du hast ein gutes
Herz, Hannah. Kennst du eigentlich die Geschichte um unsere fast gleichen
Amulettanhänger?«
Nach ihrem zögernden
Kopfschütteln klopfte er mit einer einladenden Geste auf den Boden. »Setzt euch
zu mir, dann erzähle ich sie euch.« Schüchtern kauerte sie sich im Schneidersitz
dicht neben Hakim, der sich in einem gebührenden Abstand zu dem alten Mann auf
den Teppich gehockt hatte.
»Es ist die Legende
unserer beiden Völker«, begann Ilyas mit leiser Stimme zu erzählen und schien
dabei jede ihrer Regungen aufmerksam zu verfolgen. »Wir Muslime und ihr Juden,
wir waren nicht immer verfeindet – im Gegenteil. In eurer Gemeinschaft ist der
Glaube an den bösen Blick genauso stark vertreten wie bei uns. Neid, Missgunst
oder auch zu große Bewunderung können den bösen Blick entfesseln. Unser
arabisches Wort Chamsa bedeutet genau wie euer hebräisches Wort Chamesch – die
Zahl Fünf. Das Symbol der offenen Hand mit den fünf Fingern dient als ein
schützender Glücksbringer. Sowohl im Judentum als auch im Islam ist die Chamsa
das meistbenutzte Amulett für den magischen Schutz. Ihr nennt es die Hand
Miriams, wir nennen sie die Hand Fatimas. Doch unser Glaube daran bleibt
derselbe, oder?«
Seine Augen blickten
sie an und Hannah konnte nur stumm nicken. Mit einfühlsamer, melodischer Stimme
erzählte Ilyas weiter.
»In dem großen Tempel
von Jerusalem sind die Beschützenden Hände an den Deckengewölben in einem sehr
tiefen, roten Purpurton gemalt. Das ist eine sehr seltene Farbe, die aus dem
wurmähnlichen Insekt Tola´at Shani gewonnen wird. Damit wollen die Priester die
Menschen daran erinnern, dass auch ein kleiner Wurm ein Geschöpf Gottes ist und
wir alle in Demut und Bescheidenheit miteinander leben sollen. Aber all unsere
Amulette können keine Wunder vollbringen. Jeder Mensch entscheidet selber über
seine Worte und seine Handlungen. Dafür sind wir selber verantwortlich – nicht
das Schicksal. Viele Generationen vor uns haben versagt. Doch das war nicht
immer so.«
Neugierig lauschte
Hannah seinen Worten, blickte dabei aber immer wieder verstohlen zu Hakim, der
sich mit jedem Wort Ilyas mehr und mehr versteifte und jetzt wie eine erstarrte
Marmorsäule neben ihr saß. Allmählich machte sie sich große Sorgen um ihn. Ilyas
hingegen schien Hakims angespannte Miene nicht zu bemerken. Scheinbar unbeirrt
fuhr er in seiner Erzählung fort.
»Ganz am Anfang standen
sich das Judentum und der Islam sehr nahe, denn unsere Vorstellungen von Glauben
und Religion sind eng miteinander verflochten. Viele unserer Riten ähneln sich.
Die täglichen Gebete, unsere Reinheitsregeln beim Essen und die Beschneidung der
Jungen. Wir Muslime und auch ihr Juden glauben, dass wir ein von Gott
auserwähltes Volk sind, und darum befolgen wir die detaillierten Regeln, um
unserem Gott zu gefallen. Diese gemeinsamen Glaubensgrundsätze erlaubten über
viele Jahrzehnte eine friedliche Koexistenz zwischen Juden und Muslimen. Als ein
Volk der "Besitzer der Schriften" waren Juden unantastbare Schutzbefohlene, die
in unserer Sprache Dhimmi heißen. Im Koran steht geschrieben: Wer einen Dhimmi
verletzt, hat mich verletzt – und wer mich verletzt, hat Allah verletzt. Denn zu
Beginn unserer Zeitrechnung war Mohammed, der Prophet des Islam, mit dem
jüdischen Volk innig befreundet. Bis zum Jahre 627. Im so genannten Grabenkampf
vor Medina siegten die arabischen Stämme unter der Führung Mohammeds. Und alle
Juden, die sich danach weigerten, sich zum Islam zu bekehren, verloren daraufhin
ihren Anspruch, ein Schutzbefohlener zu sein.« Ilyas legte eine kurze Pause ein,
bevor er mit leiser Stimme weiterberichtete.
»Danach begannen
machtbesessene Herrscher mit den Eroberungen fremder Länder und mit sinnlosen
Kriegen, in denen sich die Bevölkerung verlor. Die Menschen haben sich
entfremdet und aufgehört, an das Miteinander und den gegenseitigen Respekt zu
glauben. Jetzt ist es an der Zeit, das zu ändern. Es ist gut, dass du den Anfang
gemacht hast, Hannah. Denn Gott kann nicht überall sein und alles geradebiegen,
was wir Menschen falsch machen. Da hätte er viel zu tun.«
Mit einem unterdrückten
Schmerzensschrei zuckte sie zusammen, denn Hakim hatte ihre Hand krampfhaft
zusammengepresst. Als sie aufsah,
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