CHAMSA - 5 Tage bis zur Ewigkeit (German Edition)
bemerkte sie das Entsetzten in seinem
aschfahlen Gesicht. Auch Ilyas sah ihn an und sagte mit fester Stimme: »Hakim,
du weißt es genauso gut wie ich: Die Religion erstickt unser gesamtes Land.
Alles wird hier zur religiösen Angelegenheit, selbst die Luft, die wir atmen,
und das Wasser, das wir trinken. Selbst die Politik ist zu einer religiösen
Sache geworden. Die Religion legt sich über alles, so dass das Land und das
Leben darunter erstickt. Ich bin ein heiliger Mann des Korans, aber ich lehne es
ab, alles in religiöse Schubladen einzusortieren. Gott hat uns mit einem Geist
ausgestattet, der uns von den Tieren unterscheidet, und uns damit zum Denken
aufgefordert.«
Nachdenklich berührte
Hannah ihre Kette. Im Gegensatz zu vielen Fernsehreportagen war Ilyas Vortrag
ohne böse Worte oder gegenseitige Anschuldigungen gewesen. Dann hob sie
neugierig den Kopf. »Hakim hat gesagt, dass Sie auch in die Zukunft blicken
können.«
»Ja, das stimmt. Ich
besitze diese Gabe.« Der silberne Löffel klirrte leise im Glas, als Ilyas seinen
Minztee umrührte. Danach legte er behutsam eine Hand auf ihren Arm. »Möchtest du
etwas ganz Bestimmtes wissen, mein Kind?«
Hannah druckste ein
wenig herum. Doch dann konnte sie ihre Frage nicht mehr zurückhalten und die
Worte sprudelten förmlich aus ihrem Mund. »Wann wird dieser schreckliche Krieg
endlich vorbei sein? Wann werden unsere beiden Völker sich vertragen und lernen,
sich gegenseitig zu respektieren? Sodass Menschen wie wir«, flüsterte sie mit
einem schüchternen Blick auf Hakim, »eine gemeinsame Zukunft haben können?«
Als habe Ilyas ihre
Frage erwartet, begegneten sich ihre Blicke und Hannah hatte das Gefühl, dass
seine schwarzen Augen bis auf den Grund ihrer Seele blickten. Für einen
Augenblick verharrte er in völliger Stille. Neben sich bemerkte sie, wie Hakim
seinen gesamten Körper anspannte und Ilyas unergründlich ansah. Als der weise
Mann nach langen Minuten antwortete, klang seine Stimme sanft.
»Mein Kind, der Weg ist
das Ziel, wenn man ihn gemeinsam geht. Ich sehe das Lächeln der Sterne über euch
und eine Zahl – Chamsa. Sie schenken euch fünf Tage bis zur Ewigkeit.«
Ein zischender Laut kam
aus Hakims Mund, bevor er leise im schnellen Arabisch auf Ilyas einsprach, bis
die Gebetsrufe von den vielen Minaretten ihn unterbrachen. Entsetzt sah er auf
sein Uhr, erhob sich ruckartig, trat neben sie, umschlang ihre Taille und zog
sie hoch. An seinem besorgten Gesichte erkannte Hannah, dass er beunruhigt war.
Hastig verabschiedeten sie sich. Als Hakim ihr von der Tribüne half, sah sie
sich noch einmal um und begegnete Ilyas gütigen Augen und seinem sanften
Lächeln. Doch im nächsten Augenblick spürte sie Hakims Hand in ihrer, als er sie
ziemlich unsanft durch das Menschengewirr hinter sich herzog. Wütend zerrte sie
an seinem Ärmel.
»Möchtest du mir
irgendwann vielleicht mitteilen, was das alles zu bedeuten hat?«
»Oh, tut mir leid«
murmelte er. Sofort verlangsamte er seine Schritte und passte sich ihrer Gangart
an, bis er schließlich antwortete.
»Vertraust du mir?«
Verzagt nickte sie.
»Gut, dann warte noch ein wenig, ich kann es dir jetzt noch nicht erzählen.«
Aus dem Augenwinkel
schielte sie zu ihm herüber, aber sein Gesicht war jetzt vollkommen
ausdruckslos, wie in Stein gemeißelt. Nicht bereit, das Geheimnis, was auch
immer es war, mit ihr zu teilen. Schweigend führte er sie durch das verflochtene
Gassengewirr des Souks. Verunsichert blieb Hannah dicht hinter ihm, bis er sich
ruckartig umdrehte und ihre Hand ergriff.
»Wir müssen schneller
laufen, Hannah. Ich habe dir versprochen, dich nicht in Gefahr zu bringen; aber
durch Ilyas habe ich die Zeit vergessen. Wir müssen vor zwölf Uhr zurück sein.
Ab Mitternacht macht die Armee in unregelmäßigen Abständen Kontrollgänge am
Grenzzaun.«
Verstört sah Hannah zur
Turmuhr hoch. Damit blieben ihnen blieben nur noch acht Minuten. Er packte ihre
Hand fester und hastig liefen sie durch die Plantagen des Niemandslandes.
Atemlos erreichten sie den Zaun. Noch war kein Wächter zu sehen. Seufzend ließ
Hakim ihre Hand los, blieb aber dicht vor ihr stehen. Die Luft vibrierte
zwischen ihnen und Hannah wünschte, dass ihre Lippen sich berührten. Aber Hakim
strich ihr mit den Fingerspitzen nur sanft über die Wange.
»Hannah, du musst jetzt
zurück in deine Welt gehen«, drängte er.
»Sehen wir uns morgen?«
Ihre Frage
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