Chaos Erde
einen sandigen, schlangenförmig gewundenen Weg, der zwischen dicken Felsbrocken verlief, von denen manche mit Moos bewachsen waren, die meisten jedoch kahl. In Abständen wucherte von einem kleinen Fleckchen Erde der knorrig-knotige Stamm einer Pinie empor; in etwas weiterer Entfernung bildete eine größere Anzahl der Bäume ein Wäldchen. Ein Schmetterling, der von einem Baum zu einem Felsklotz und zurück gaukelte, zog den Blick an. Irgendwo schwang sich ein Vogel mit breiten Flügeln in die Lüfte, doch obwohl man seine Fittiche rauschen hörte, sah man ihn nicht, nur die Zweige, die hinter ihm wippten. In der Höhe überspannte ein Himmel vom reinsten Azurblau die Welt, getupft mit Wolken, die wie Perlmutt schillerten. Die ganze Umgebung hinterließ den Gesamteindruck schamloser Vollkommenheit.
»Hier ist Kunst zur Tarnung des Artifiziellen gebraucht worden«, konstatierte Nixy verhalten. »Weißt du zufällig, wo wir sind? Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Quaddel war unterdessen ein paar Schritte gegangen. Nun drehte er sich halb um, schaute in Nixys Richtung und konnte ein überraschtes Schnaufen nicht unterdrücken. Nixy reagierte mit Erschrecken.
»Schon gut, keine Bange«, beruhigte Quaddel sie hastig. »Schau dich um, dann siehst du, was ich sehe. Es ist der wahrscheinlich berühmteste Anblick auf dem gesamten Planeten.«
Der schräge Kegel mit seiner schimmerndweißen Kuppe, die zerklüfteten, zerfurchten Hänge, die Vielfalt im Einen, die Hokusai, den »vom Malen besessenen Greis«, dazu bewog, sechsunddreißig Ansichten dieses Bergs zu malen, von denen jedes ein Meisterwerk wurde…:
»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, räumte Nixy mit gerunzelter Stirn ein. »Ach ja, sicher, ich habe Holoprojektionen gesehen. Multi-Opa plant auf Xanadu eine Kopie hinzustellen, nur doppelt so groß.«
»So, plant er?«
»Er hat’s geplant, soviel ich weiß, aber seit ich weg bin, kann ja so manches enorm schiefgelaufen sein… Erkennst du an dem Berg, wo wir sind?«
Quaddel gab auf.
»Das ist der Fujiyama«, teilte er Nixy im Klartext mit. »Wir sind in Japan.«
»Echt? Na, und wo sind all die vielen Japsen?«
Hinter ihnen erhob sich eine barsche Stimme in vorwurfsvollem Ton.
»Aus Höflichkeit warten sie, bevor sie Sie ansprechen, damit Sie während der ersten Minuten Ihrer Ankunft in Nihon in aller Ruhe die schöne Aussicht auf den Fujiyama kontemplatorisch goutieren können. Aber als gaijin sind Sie leider für so feingeistige spirituelle Genüsse nicht zu gewinnen. Ich vermute, Sie möchten nicht einmal, daß ich für Sie die Teezeremonie vollziehe.«
Als sie sich umdrehten, sahen sie eine untersetzte Gestalt in voller Samurai-Kluft aus ungefähr der Epoche des zweiten Dreijährigen Krieges: yoroi- Rüstung, tsuru-bashiri hübsch verziert, ein kote nur am linken Arm. Der Helm war im hoshi-kabuto- Stilmit Nieten beschlagen. Das leicht gekrümmte Schwert hatte der Krieger gezückt; nun schob er es, in der Miene einen beredten Ausdruck der Verachtung, zurück in die lackierte Scheide.
»Einen Moment mal«, rief Quaddel indigniert. Doch zu spät: schon war der Ritter verschwunden.
Nicht auf eine Weise, von der man sagen könnte, der Erdboden hätte ihn verschluckt; eher wirkte es, als wäre rund um die Stelle, wo er gestanden hatte, die Luft für das Auge undurchsichtig geworden.
»War das… äh… Wie nennt ihr das?« stammelte Quaddel. »War das ein Hologramm?«
»Ich weiß nicht recht«, bekannte Nixy halblaut. »Vermutlich ja, nur kann ich mir nicht bildlich vorstellen, wie ein Hologramm die Teezeremonie vollzieht.«
»Befragst du dein HyperMemo?«
»Ja, aber nicht nach der Teezeremonie. Darüber weiß ich schon Bescheid. Meine Tante Hedwig fährt voll auf den Volksbrauchstrip ab, sie mixt Jul- glögg, braut Apfelziderpunsch, solche Sachen. Ab und zu verfällt sie auf richtig abstoßende Abstrusitäten. Warst du schon mal beim kava- Zubereiten dabei, wo alle rumsitzen und Rinde kauen und in eine Schüssel spucken, und dann läßt man das Zeug fermentieren, und zum Schluß soll man die Brühe trinken? Also ehrlich! Man kann das Gesöff in einem Zehntel des Zeitaufwands als Replikat haben, und obendrein ohne all die Bakterien… Nein, das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Entsinnst du dich noch, daß ich mich über Kopfschmerzen informiert und das über die Migräneauren erfahren habe? Jetzt hatte ich plötzlich die Idee, mich zu erkundigen, wieso die Benutzung des Apparats solches
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