Chaos Erde
Wand, barst durch eine zweite, torkelte kopfüber, immer gefolgt von Nixy, durch eine dritte Wand ins Freie.
Und sah…
Draußen war es Nacht, aber nicht finster. Ringsherum lag eine Stadt ausgebreitet. Soweit das Auge reichte, erhoben sich Hochbauten, sämtliche Fenster erleuchtet, und zahllose Leuchtreklamen erhellten zusätzlich das Dunkel. An den Außenmauern der Gebäude flitzten Liftkabinen auf und ab, durch transparente Tunnel rasten Schnellbahnen da- und dorthin, schlanke Flugzeuge suchten den Horizont oder kreisten abwärts, um auf dem Dach eines der Wolkenkratzer zu landen – zum Beispiel einem wie diesem Dach, auf dem Quaddel momentan fassungslos in die Runde glotzte.
Auf einem Dach nämlich hielten er und Nixy sich auf; ungeachtet der tadellos vorgespiegelten »Natürlichkeit« des sandigen Fußwegs zwischen den Findlingen und Pinien, ungeachtet des Sandgartens und der bonsai, ungeachtet der Papierwände der Herberge und des flachen, dampfend-heißen Bads, in dem sie den Staub der Reise hätten abwaschen können: sie befanden sich auf dem Dach eines Wolkenkratzers, neben dem das Sears-Hochhaus (wie Quaddel mutmaßte) wie ein Baumstumpf gewirkt hätte. Mit ungefähr der doppelten Fläche eines Fußballplatzes war das Dach mehr als groß genug, um einem der hochgradig kompakt-effizient aussehenden Flugzeuge die Landung zu erlauben.
Und zwischen der Stelle, wo Quaddel sich gerade mühsam aufrappelte, und dem Dachrand stand eine Menschenansammlung.
Sie unterteilte sich in vier Gruppen: erstens in Männer und Frauen, zweitens in traditionell angezogene und solche Personen, die relativ moderne Bekleidung trugen. (Beim Gedanken daran, als wie gewöhnlich er die nach dem Abtauen erhaltene Kleidung empfunden hatte, erkannte Quaddel ohne allen Zweifel, daß die Erfindung des Duckmannschen Direkttranslokators und der Exodus der Menschen zu den Sternen spätestens eine Generation nach seinem Ableben stattgefunden haben mußten. Vermutet hatte er es schon, doch sah er jetzt hier einen augenfälligen Beweis. Wahrscheinlich hatte nach einer so umfangreichen Auswanderungswelle die Daheimgebliebenen ihr Dasein möglichst wenig verändern wollen, oder es hatte ihnen dazu am Einfallsreichtum gemangelt.)
Und in gänzlichem Kontrast zu der Aufteilung hatte die Menschenansammlung eine bei ausnahmslos sämtlichen Personen vorhandene Gemeinsamkeit. Unter allen… Wie viele zählten sie? Mindestens einige Hundert. Unter allen gab es keine einzige, die nicht den Eindruck wehmütigen Eifers vermittelt hätte. Irgendwie konnte Quaddel es ihnen anmerken, obwohl sie keine verbalen Angebote machten; vielmehr geschah es durch eine umfassende Kombination aller Sinneswahrnehmungen, die Pheromone eingeschlossen: er stand hier vor einer vollen Konjugation des Verbs sehnen.
Nein, man hatte es mit keiner bloßen Sehnsucht zu schaffen; es war etwas Schlimmeres als Sehnen.
Ein Lechzen.
Quaddel blickte sich nach Noriko um. Sie lag auf den Knien, wand sich regelrecht vor ihm, die Stirn auf dem Boden, flehte ihn um Bestrafung für das an, was sie Falsches getan haben mochte, und jammerte, daß jene, die ihr das Privileg gewährt hatten, die beiden Fremden in Nihon begrüßen zu dürfen, sie über die Dachkante würfen, so daß die vollautomatischen Entsorgungsroboter sie wegräumten, zur Abwechslung in ihrer Existenz, die so langweilig und bedauernswert sei wie ihr (Norikos) Leben, einmal Arbeit erhielten…
Eine geradezu übernatürlich Traurigkeit erfüllte Quaddels Gemüt. Als er Nixy anblickte, sah er, daß auch sie, zumindest in Ansätzen, die grausige Wahrheit durchschaute. Er nahm ihre Hand und zog sie an seine Seite. »Noriko«, fragte er mit belegter, lahmer Stimme, »du bist ein Simulacrum, nicht wahr?«
Darauf gab sie keine Antwort, sondern setzte ununterbrochen ihre schreckliche Parodie der Unterwürfigkeit fort.
»Sie sind alle Simulacren«, flüsterte Nixy.
»Dachte ich’s mir doch.« Mit der Zunge befeuchtete Quaddel sich die Lippen; er schluckte schwer. »Und ich glaube, jetzt weiß ich auch, weshalb sie es so hingedreht haben, daß jeder, der einen Translokatortransfer vornimmt, ohne ein Ziel zu nennen, hier anlangt.«
»Rimski… Rimski, ich habe ein ganz komisches Gefühl. Nach der Migräne, die mir das HyperMemo verursacht, möchte ich es lieber nicht konsultieren, aber ich bin auf einmal der verrückten Überzeugung, daß du recht behältst. Egal was du sagst, du behältst recht. Und das ist doch eigentlich
Weitere Kostenlose Bücher