Chaos Erde
»Wissen Sie, die Verbrecherkreise haben seit jeher mehr Respekt als die Kräfte von Recht und Ordnung vor mir gehabt. Stimmt’s, Watson?« Er wartete nicht auf Beantwortung. »Ich bin völlig Mr. Carnackis Meinung«, fügte er statt dessen hinzu. »Sie beide sollten ausgehen, während wir den Fall durchdenken. Der Jubiläumsfestzug ist wirklich sehenswert, auch wenn manche Wagen eindeutig unhistorisch sind. Er ist fast so beliebt wie Holyrood. Dort sind Sie doch gewesen, oder?«
»Wie haben Sie herausgefunden, wo wir gewesen sind?« stellte Quaddel eine Gegenfrage.
»Oho, Mr. Quaddel! Ist es etwa nicht die Pflicht eines Detektivs – beziehungsweise einer Detektivin, neuerdings kursieren nämlich Gerüchte über eine Neue im Gewerbe, Miss Marple oder Miss Schrapnell oder so ähnlich soll sie heißen –, sich über jeden Klienten umfassend in Kenntnis zu setzen? Nun aber fort mit Ihnen! Flanieren Sie an der Themse, gehen Sie unter Leute, schauen Sie sich die Zeremoniells der Hohen und Mächtigen aus aller Welt inklusive der Unterwelt an, gönnen Sie sich ein bißchen Vergnügen, während wir uns Ihres Problems annehmen. Ach, um eines nicht zu vergessen: Fahren Sie nicht mit einer zweirädrigen, sondern einer vierrädrigen Droschke.«
»Warum?« fragte Nixy.
»Weil neunzig Prozent unserer Gäste nur zweirädrige Droschken kennen, aber die vierrädrigen sind im Grunde genommen ein weitaus authentischerer Typ.«
Holmes unterstrich seinen Ratschlag mit einem trocken-humorigen Zwinkern. Quaddel verspürte eine Wallung frischer Zuversicht. Er stand auf, machte eine angedeutete Verbeugung und bot Nixy den Arm an, und gleich darauf waren sie unterwegs.
Zuerst führte der Weg sie in südlicher Richtung die Biker Street hinab und ostwärts durch die Oxford Street. Momentan lag das gesamte Gebiet offenbar innerhalb der viktorianischen Epoche. Anfangs schielte Nixy immerzu nervös nach irgendwelchen Protestlern rundum, doch allem Anschein nach war auf die Meldetätigkeit der Ungeraden Kraftfahrabteilung Biker Street Verlaß. Und ob nun die Marsianermanifestationen in der Nähe des Direkttranslokationsbüros in irgendeinem Zusammenhang mit Nixys Anwesenheit standen oder nicht, am heutigen schönen Morgen ließen sich in der Stadt keinerlei Anzeichen irgendwie gearteter absonderlicher Vergänge beobachten. Infolgedessen entspannte sich Nixy, noch ehe die Droschke einen Kilometer weit gefahren war, und stellte sich darauf ein, den Ausflug zu genießen.
Der Kontrast zum nebelverdüsterten London des vergangenen Abends hätte nicht krasser sein können. In sämtlichen Schaufenstern und an allen Türklopfern schienen über Nacht Blumenkränze in Rot, Weiß und Blau erblüht zu sein – dank derselben Geräte, wie Quaddel jetzt infolge seines aktualisierten Wissensstands wußte, die in der Nacht den fürs Recycling der »Erbsensuppe« erforderlichen Schmuddel eingesammelt hatten –, vor jedem Fenster standen Blumenkästen voller kleiner farbenprächtiger Blümchen, und bunte Girlanden umringten die blauweißen Schilder, die man an jeder Haustür sah und die an berühmte Persönlichkeiten erinnerten, die einmal in dem Haus, auf dem Grundstück, irgendwo in London oder zumindest sonstwo auf der Erde gewohnt hatten: WILLIAM SHAKESPEARE – DER HERZOG VON WELLINGTON – ELVIS PRESLEY – HOMER…
Das Gesamtbild litt jedoch stark unter dem unübersehbaren Mangel an Bevölkerung. Im Gegensatz zu den am Vortag im Öffentlichen Direkttranslokationsbüro so aktiv gewesenen Leuten versuchten die wenigen Personen, die sich auf den Straßen umherbewegten, nicht im mindesten, den Eindruck einer beträchtlichen Menschenmenge zu erwecken. Ein Drehorgelspieler entlockte seiner Apparatur steinalte Tanzmusikstücke; aber er war weit und breit der einzige seiner Profession, und er wirkte, als ob er sich grauenvoll langweilte. Auf einem Rasen schnaufte und keuchte eine Blaskapelle sich unter einem Sonnenschutzdach Auszüge aus Werken Wagners und Rossinis ab; sie umfaßte allerdings nur fünf Musiker. Ein Bettler grölte völlig unmusikalisch patriotische Lieder und bot sie gleichzeitig als Flugschrift an; aber auch er war der einzige seines Schlages. Hoch in der Luft schwebte ein mit dem britischen Union Jack bedruckter Drache, dessen lange Kordel ein kesser Londoner Cockney-Lümmel hielt, während nahebei ein ähnlicher Bengel mit umgehängten Plakaten auf- und abwanderte, deren Werbung den Touristen empfahl, Lord’s Cricket Ground zu
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