Chaosprinz Band 1
mehr böse. Schweigend lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter. Manu reichte mir die Tasse mit dem heißen Tee. Ich trank. Es ging mir schon ein klitzekleines Bisschen besser… ein ganz klitzekleines bisschen…
»Dieser Kerl war sowieso nicht gut genug für dich«, brummte Manu. »Auf einen heuchlerischen Feigling kannst du gut verzichten.« Er machte ein überzeugtes Gesicht und nickte, wie um seine eigene Aussage noch zu bestätigen.
»Vielleicht…«, flüsterte ich. »Trotzdem vermisse ich ihn… trotzdem liebe ich ihn…«
Ich blieb den ganzen Tag in Manus und Marcs Bett liegen. Wir schauten DVDs und aßen Unmengen von Süßigkeiten. Dann fuhren sie mich nach Hause. Ich jammerte und bettelte, drohte und schimpfte, weinte und schrie, doch Marc ließ sich nicht erweichen. Ich durfte die Nacht nicht bei ihnen in ihrem großen, kuscheligen Bett verbringen.
»Je schneller du dich daran gewöhnst, ihn zu sehen, desto besser. Ihr lebt in einem Haus, in einer Familie. Tobi, du musst dich zusammenreißen«, belehrte er mich streng und zog kräftig an meinem Bein. Ich hatte mich unterm Bett versteckt und klammerte mich nun an einem der vier Beine fest.
»Tobias, du bist unmöglich«, ereiferte sich Marc. »Und du willst achtzehn Jahre alt sein? Niemals, du benimmst dich wie ein Fünfjähriger. Vielleicht hat Alex gar nicht so unrecht gehabt, als er dich abgeschossen hat.«
Stinksauer kroch ich unter dem Bett hervor. Stolz richtete ich mich auf, stieß Marc unsanft beiseite und fauchte: »Nur fürs Protokoll: Ich habe ihn abgeschossen, nicht umgekehrt!«
Hart stößt ein Ellenbogen in meine Seite. Erschrocken blicke ich auf. Lena sieht mich an, ihre Stirn in Falten gelegt. »Hey, Tobi, die Stunde ist zu Ende…«
»Was? Schon?« Ich schaue mich um. Meine Mitschüler packen quatschend und lachend ihre Sachen zusammen, Baummann verstaut seine Unterlagen in der Aktentasche und unterhält sich dabei mit Sylvia, einem Mädchen, das ebenfalls in unseren Kurs geht und immer sehr viel Dekolleté zeigt. Sie lacht hysterisch auf, wirft ihre langen, blonden Haare nach hinten und reckt Herrn Baummann ihre Brüste entgegen.
»Uäh, wie kann man sich nur so erniedrigen?« Lena schüttelt sich. Ich muss lächeln. Eilig stopfe ich Kabale und Liebe in meine Tasche und folge Lena Richtung Zimmertür.
»Tobi, warten Sie bitte noch eine Sekunde…« Baummann ruft mich zurück.
Überrascht bleibe ich stehen. Was will er bloß? Ist es, weil ich im Unterricht nicht richtig aufgepasst habe? Bekomme ich jetzt Ärger? Mit einer entschuldigenden Geste auf mich wimmelt Bäumchen Sylvia ab und wartet, bis sie außer Hörweite ist. Sylvia wirft mir einen kurzen, vernichtenden Blick zu, als sie an mir vorbeigeht, dann verlässt sie den Raum. Unsicher stehe ich vor dem Lehrerschreibtisch. Baummann setzt sich auf eine Ecke des Tisches und sieht mich eindringlich an.
»Ist alles okay mit Ihnen?«, fragt er ernst.
»Ja«, lüge ich und bekomme Herzklopfen.
»Sicher?« Er glaubt mir natürlich nicht. Ich sage nichts mehr, schaue stumm auf meine Schuhe und versuche, seinen wachsamen Augen zu entgehen. »Normalerweise sind Sie mit vollem Einsatz bei der Sache, melden sich häufig im Unterricht und man merkt deutlich, wie viel Spaß Sie daran haben, sich mit Literatur zu beschäftigen. Doch seit ein paar Tagen scheinen Sie irgendwie abwesend zu sein. Bedrückt Sie etwas?« Prüfend bohren sich seine klugen Augen in meine. Ich werde nervös.
»Es ist alles okay, wirklich. Ich bin nur ziemlich müde zurzeit. Ich glaube, ich werde krank, oder so«, meine ich ausweichend und versuche dabei, zu lächeln. Er nimmt es mir nicht ab.
»Ich kann mein Angebot nur wiederholen: Ich weiß, Ihre Situation momentan ist bestimmt nicht einfach, sollten Sie daher über irgendetwas reden wollen oder brauchen Sie vielleicht Hilfe, dann kommen Sie bitte zu mir. Ich werde tun, was ich kann, um…«
»Vielen Dank, Herr Baummann. Das ist wirklich nett. Aber es geht mir gut und ich benötige keine Hilfe«, unterbreche ich ihn und klinge dabei etwas rüde, was mir sofort leid tut, als ich seinen betroffenen Gesichtsausdruck sehe. »Trotzdem vielen Dank!«, füge ich noch schnell versöhnlich hinzu. »Nur muss ich jetzt zum nächsten Unterricht.« Ohne ein weiteres Wort verlasse ich das Klassenzimmer.
Die Zeit vergeht wie im Flug. Ich bekomme auch von der nächsten Stunde rein gar nichts mit und werde erst wieder von der Schulglocke aus meinen wirren Gedanken
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