Chaosprinz Band 1
melancholisch.
Ich spüre was. Ein Kitzeln… nein, ein Kribbeln. Auf meinem Gesicht… auf meiner Haut. Was ist das? Wo kommt das her. Ist mir kalt? Nein, die Sommerluft ist angenehm warm. Daher kann meine Gänsehaut also nicht kommen. Ich hebe den Kopf, sehe auf die dicht befahrene Straße. Autos neben Autos. Dann drehe ich mich nach links, schaue aus dem heruntergelassenen Fenster. Braune Augen… dunkelbraun… rund und groß. Sie bohren sich in meine, fixieren mich.
Er ist wohl in meinem Alter, vielleicht etwas jünger… und schöner als jeder andere Mensch, den ich jemals zuvor gesehen habe. Langes, dichtes, dunkles Haar hängt ihm ins Gesicht, bedeckt zur Hälfte seine Stirn.
Süß und klein die Stupsnase, tiefrot und voll der Schmollmund… und dann die Augen… Dichte schwarze Wimpern, so lang wie bei einer Frau… und sein Blick… Wie ein kleines Tier… ein Welpe? … Nein, ein Bärenbaby? … Auch nicht… Ein Rehkitz! Sein Blick ist der eines jungen Rehkitzes! Bambi!
Wir starren uns an. Seine wundervollen Lippen formen sich zu einem entzückenden O. Er sieht erstaunt aus, überrascht. Als würde er sich darüber wundern, mich hier zu sehen. Das macht keinen Sinn! Mein Herz klopft. Es pocht in kräftigen Schlägen gegen meine Brust. Eine sanfte Wärme rieselt durch meinen Körper. Sie entsteht im Bauch und wandert unaufhörlich durch meine Adern… Kann man bestimmt alles wissenschaftlich erklären… Aber will ich das?
Nein.
Ich sehe dem jungen Mann in die Augen und bekomme erneut eine Gänsehaut, als ich bemerke, wie tief ich in ihn hineinschauen kann. Ich blicke ihm geradewegs in die Seele. Eine schöne Seele. Das erschreckt mich!
Dann ist er weg. Ganz plötzlich. Ohne Vorwarnung. Ich konnte nichts dagegen tun. Jetzt rast mein Herz und ich schwitze. Ich sehe dem Wagen hinterher, sehe, wie er über die Kreuzung fährt. Mit dem schönen Jungen auf dem Beifahrersitz.
Er ist weg. Aber die Wärme ist noch da. Und das Kribbeln.
Ein Hupen.
Mein Herz klopft. Es ist aufgewacht, hat sehr lange geschlafen. Ich habe es noch nie so gespürt. Fühlt sich komisch an, so lebendig… Es macht mir Angst. Da lebt was in mir…
Erneutes Hupen. Ungeduldiger.
Diese Augen… Bambiaugen… Ein völlig Fremder, und trotzdem habe ich das Gefühl, niemals jemanden so gut gekannt zu haben wie ihn. Das ist albern… und verrückt… und schön!
Ein ganzes Hupkonzert erschallt hinter mir. Ich schrecke auf, blinzle. Wo bin ich? Scheiße, ich stehe immer noch an dieser beschissenen Ampel. Sie hat mittlerweile schon längst wieder auf Rot geschaltet. Ich zittere, klammere mich am Lenkrad fest. Mir ist immer noch sehr warm.
Endlich schaltet die Ampel wieder um. Ich fahre an. Die ganze restliche Fahrt zu meiner Wohnung denke ich an Bambi. Ich sehne mich nach ihm. Kann man Sehnsucht nach einem Menschen haben, den man gar nicht kennt?
Ich stelle mir seine Stimme vor, sein Lachen… Er lacht bestimmt viel… Stelle mir vor, wie er wohl küsst und wie sich sein Körper unter meinem anfühlen würde.
Töpfe und Deckel… Märchenprinzen und Happy Ends… Liebe auf den ersten Blick! Das ist doch alles totaler Schwachsinn! Ich bin kein Kind mehr. Ich weiß das!
Als ich in mein Zimmer trete, habe ich keinen Hunger mehr, ich bin auch nicht müde. Sofort greife ich nach einer weißen, unberührten Leinwand, tauche einen dünnen, feinen Pinsel in die Ölfarbe und setze den ersten Strich. Passion… Liebe… Leidenschaft… Die braunen Rehkitzaugen und die reine Seele von Bambi…
ENDE
Ich starre stumm auf den letzten Satz. Mein ganzer Körper kribbelt… Mir ist so heiß… Zitternd lege ich das Buch auf der Bettdecke ab. Ich stehe auf und beginne, im Zimmer hin- und herzulaufen.
Gedanken in meinem Kopf? Hm… Ich weiß nicht. Alles fühlt sich so seltsam an. Hitze in meinem Hirn, meinem Herz, meinem Magen… Das Blut schießt durch meine Adern, die Organe arbeiten, leben, pulsieren viel zu schnell. Mein Innerstes zieht sich unablässig zusammen und dehnt sich dann in ungeahnte Maße aus. Ich habe das Gefühl, man hätte mir das Augenlicht genommen und würde nun von mir verlangen, endlich klar zu sehen. Wie blind renne ich in meinem Zimmer umher.
Immer wieder wandert mein Blick hinüber zu dem schwarzen Buch. Es liegt aufgeschlagen auf Noresund. Ich fürchte mich und gleichzeitig zieht mich das Buch wie magisch zu sich hin…
Warum hast du mir das gegeben, Alex? Willst du, dass ich den Verstand verliere?
28.
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