Chaosprinz Band 2
deinen Text komplett vergessen. Und dabei musstest du dir überhaupt nicht viel merken. Alles, was du zu sagen hattest, war : Husch, husch, der Wind, er zerrt an meinen Blättern! Aber ich habe mich nicht geschämt. Nein, es war mir egal, dass du stotternd und schniefend auf der Bühne herumgezappelt hast. Auch die Blicke der anderen Eltern und der genervte Gesichtsausdruck deiner Lehrerin waren mir gleichgültig. Ich habe extra laut in die Hände geklatscht und verkündet, wie wahnsinnig stolz ich auf dich sei.«
Ich erinnerte mich. Ich glaube, ihre schrillen Bravo -Rufe waren mir sogar noch unangenehmer als mein Blackout.
»Aber, Ma…«, seufzte ich.
»Ich bin immer für dich da gewesen – immer!«, schluchzte sie laut.
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. »Wie oft denn noch, Ma: Es geht hier nicht um dich. Du hast dich vor einigen Monaten entschieden, ein neues Leben anzufangen. Du bist nach Afrika gegangen und dorthin wirst du auch wieder zurückkehren, wenn es dir hier zu langweilig wird. Das hast du schon immer so gemacht. Du hast die Dinge geändert, die dir nicht gefallen haben. Was dabei mit mir passiert ist, hat dich nur am Rande interessiert….«
»Willst du damit sagen, dass ich eine schlechte Mutter war?«, fragte sie mich entsetzt.
»Nein, das will ich damit nicht sagen.« Ich hob beide Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Es ist nur… Du hast immer deine eigenen Entscheidungen getroffen und das war gut so. Aber nun… Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will. Und ich will nicht eines Tages aufwachen und einsehen müssen, dass ich die Chance, meinen Vater kennenzulernen, vergeudet und ignoriert habe.«
Ma verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich grimmig an. Noch hatte ich sie nicht wirklich überzeugt.
»Ich liebe dich, Ma, und niemals werde ich eine bessere Mutter als dich haben.«
»Sag das nicht«, murmelte Ma. »Wer weiß, vielleicht wirst du in deinem nächsten Leben als eines der zwei Dutzend Kinder von Angelina Jolie wiedergeboren…«
Ihr Sarkasmus ließ mich erleichtert aufatmen. Ich ging zu ihr, nahm sie in den Arm und drückte sie fest an mich.
»Bist du noch sauer?«, fragte ich leise.
»Ich denke, du wirst deine Entscheidung sehr schnell bereuen«, murmelte sie.
»Das will ich nicht hoffen«, seufzte ich. »Außerdem werden Bettina und die anderen bestimmt sehr froh sein, wenn ich nicht mehr in ihrer Nähe bin…«
Mit den anderen meinte ich natürlich Alex. Ich sah und hörte den gesamten Sonntag über nichts von ihm. Kein einziges Wort. Kein Lebens- und kein Liebeszeichen…
Ich weiß nicht, wie er auf meine Entscheidung, bei Pa zu bleiben, reagiert hat. Wahrscheinlich war er erleichtert.
Ich fröstle. Die kalte Morgenluft dringt durch das geöffnete Fenster und streicht mir mit ihren klammen Fingern über die nackten Arme und das Gesicht. Bibbernd schließe ich das Fenster.
Fertig angezogen verlasse ich mein Zimmer und mache mich auf den Weg ins Bad. Der schmale, fensterlose Flur ist dunkel. Sechs Türen führen von ihm weg. Auf der kurzen Stirnseite befindet sich die Wohnungstür, durch die Tür ihr gegenüber gelangt man ins Wohnzimmer. Bleiben also noch die beiden Längsseiten. Pas und mein Zimmer und gegenüber Bad und Küche.
Die Leuchtstoffröhre an der Zimmerdecke flimmert und der Spiegel über dem Waschbecken ist schmutzig. Wir hatten gestern keine Zeit mehr, um uns um solche Kleinigkeiten zu kümmern.
»Ich nehme mir den morgigen Tag frei und fahre in den Baumarkt«, meinte Pa, als wir am Abend im leeren Wohnzimmer saßen und Pizzen aus Pappkartons aßen, die wir bei einem Lieferservice bestellt hatten.
»Du und Handwerksarbeit?« Horst lachte laut auf. »Wenn ich so drüber nachdenke, vielleicht war es doch keine so gute Idee, dir die Wohnung zu überlassen…«
»Na hör mal, ganz so untalentiert bin ich nun auch wieder nicht«, murrte Pa beleidigt.
»Ach nein? Muss ich dich wirklich an den Werkunterricht der zehnten Klasse erinnern, in dem wir eine abstrakte Skulptur aus Holz herstellen sollten?« Rubensteiner, ein großer, hagerer Kerl, zog verschwörerisch beide Augenbrauen nach oben. »Anstatt einen Nagel ins Holz zu schlagen, hast du unserem Lehrer mit dem Hammer mitten auf den Daumen gehauen…« Er lachte.
»Der alte Igenmeier hat geblutet wie ein Schwein«, erinnerte sich Olaf, auch einer der freiwilligen Helfer.
»Ihr seid alle zusammen zur Schule gegangen?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, wir kennen uns schon seit
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