Chaosprinz Band 2
Augenblick noch gar nicht bewusst wahrgenommen. Sie sitzt wie immer vor mir. Ihr langes, braunes Haar glänzt, der helle Pullover steht ihr ausgezeichnet und ich nehme sehr schwach den Geruch nach Pfirsich wahr, der immer von ihr ausgeht.
Scheinbar ist sie kein Mensch, der sich nach einer Trennung mit seinem ältesten Jogginganzug und einer Tafel Schokolade im Bett versteckt und erst einmal fünf Tage am Stück heult. Anja ist eine Kämpferin… Oder zumindest hat sie eine perfekte Maske, die selbst in Krisensituationen nicht verrutscht.
Ich starre immer noch ihren Hinterkopf an, als sie sich plötzlich zu mir umdreht. Sie sagt nichts. Sie sieht mich einfach nur an. Noch nie wurde ich so angeschaut… So betrachtet… so voller Hass… Mir stockt der Atem. Verwirrt und beschämt weiche ich ihren eiskalten Augen aus. Was war das bloß?
Ich komme nicht mehr dazu, dieser Frage weiter nachzugehen, denn Dacher betritt das Klassenzimmer. Anja dreht sich wieder nach vorne und das allgemeine Gemurmel verstummt. Nur in meinem Kopf diskutieren sie immer noch weiter – die vielen verwirrten und aufgewühlten Gedanken…
55. Kapitel
Lernen fürs Leben
Es fallen Worte wie Enttäuschung, Schande und Blamage . Dacher wedelt mit einem dicken Stapel Papier in der Luft herum. Unsere Mathearbeiten. Während sein schmallippiger Mund uns mit scharfen und zynischen Hasstiraden quält, wandern seine kleinen, trüben Augen die Reihen entlang und bohren sich in unsere gesenkten Häupter.
Ich starre die Tischplatte vor mir an. Dachers schnarrende Stimme schallt durch den Raum.
Ob wir wissen würden, dass wir mit großen Schritten auf das Abitur zugehen? Ob uns das überhaupt klar sei? Wie wir uns das vorstellen würden? Wir seien nun für uns selbst verantwortlich. Die Zeit für Entscheidungen sei gekommen. Wir sollten uns langsam mal Gedanken über unsere Zukunft machen.
Nervös spiele ich mit meinem Kugelschreiber herum. Ja, die Zukunft. Wie wird sie wohl aussehen? Was ist mit Ma? Geht sie wirklich wieder zurück? Fliegt sie nach Äthiopien, zu Gordon und seinen Fliegen?
Und was ist mit der Ehe von Pa und Bettina? Wie wird sich dieses Drama entwickeln? Er kann sie schlecht zu einem Gespräch zwingen. Aber irgendwann sollten sie über ihre Ehe sprechen… über die Trennung… und über die Zukunft…
Dasselbe gilt auch für Alex und mich. Auch wir müssen reden. Ich habe so viele Fragen und sehne mich nach Antworten. Ich weiß nicht, was ich alleine machen soll.
Werde ich mein Abi schaffen? Wenn ich Dacher glaube, ist das unwahrscheinlich. Hm, ich wüsste sowieso nicht, was ich studieren sollte. Und auch nicht wo. Bleibe ich in München? Welche Gründe sprechen dafür? Oder gehe ich zurück nach Hamburg? Dort ist es mir immer gut gegangen, da habe ich mich immer sicher gefühlt. Vielleicht fange ich aber auch ein vollkommen neues Leben in einer vollkommen neuen Stadt an.
Es gibt viele Möglichkeiten. So viele. Zu viele. Ich bin nun für mich selbst verantwortlich. Die Zeit für Entscheidungen ist gekommen.
»Ich hoffe, ich langweile Sie nicht, Herr Ullmann…«
Dacher. Und er steht direkt vor mir, schaut auf mich herab. Ich zucke erschrocken zusammen und blinzle ihn nervös an.
»Was? Äh, nein… nicht langweilig… Spannend, super spannend!«
Ein leises Kichern schwappt durch die Klasse. Scheinbar hält man meinen Kommentar für eine freche Provokation. Leider sieht Dacher das genauso…
»Ihren Humor möchte ich haben«, zischt er böse. »Sie stehen mit dem Rücken zur Wand und können immer noch Scherze machen. Bewundernswert.«
Ich schlucke, bekomme einen roten Kopf und senke rasch den Blick.
»Nun, mal schauen, wie Sie auf Ihre Note reagieren, vielleicht wird Ihnen das Lachen ja dann vergehen…« Er lässt einen Bogen Papier vor mir auf den Tisch fallen. Meine Klausur.
Ich lasse sie dort liegen und starre weiter die Tischplatte an. Mit verschränkten Armen steht Dacher vor mir und mustert mich abwartend. Er will, dass ich mir mein Ergebnis anschaue – vor der gesamten Klasse. Ich rege mich nicht. Mir wird heiß.
Alle sehen zu mir herüber, ich weiß es genau. Ich spüre ihre glotzenden Blicke im Nacken. Nur einer sieht mich nicht an – Alex. Im Augenwinkel kann ich seine aufrechte Gestalt erkennen. Er starrt Dacher an.
»Ja? Herr Ziegler? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Möchten Sie vielleicht etwas sagen?«, fragt Dacher mit süßlicher Stimme.
»Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie vorhaben, bei jedem
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