Chaosprinz Band 2
einzelnen Schüler diese zehnminütige Schikaneprozedur abzuhalten. Wenn dies der Fall ist, zieht sich das Ganze ja wahrscheinlich noch eine Weile hin. Ich würde dann die Gelegenheit nutzen und mal eben zur Toilette gehen – eine Runde Kotzen!«
Totenstille. Ich glaube, alle haben aufgehört zu atmen. Dachers kleine Schweinsäuglein weiten sich vor Erstaunen. Dann werden sie wieder schmaler, kleiner, enger und schließlich sind sie nur noch zwei vor Hass und Wut glühende Schlitze.
»Natürlich«, sagt er sehr, sehr langsam. »Wenn Ihnen nicht gut ist, dann können Sie selbstverständlich gehen. Und Sie brauchen sich auch überhaupt nicht zu beeilen. Im Gegenteil, ich denke, Sie sind von der restlichen Stunde befreit.«
Alex steht auf. Unter den Blicken der gesamten Klasse packt er seine Sachen in die Umhängetasche. Er beeilt sich nicht besonders, jedoch trödelt er auch nicht herum. Er bleibt vollkommen ruhig. Er nimmt die Tasche unter den Arm und geht zur Klassenzimmertür.
Als sie hinter ihm ins Schloss fällt, kann ich mein Herz spüren, das auf einmal wie wild zu schlagen anfängt. Fast so, als müsste es den Stillstand der letzten zwei Minuten kompensieren. Mein Blick begegnet dem von Tom. Er wirkt genauso besorgt, wie ich mich fühle. Wir sehen uns an – hilflos und leicht überfordert.
Dann durchdringt Dachers ölige Stimme die unheimliche Stille.
»So, darf ich dann wieder um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, blökt er laut und unfreundlich. Die dicke Ader auf seiner Stirn pocht gefährlich und unter seinen Augen haben sich hässliche rote Flecken gebildet. »Ich werde nun die Klausuren verteilen. Sollte noch irgendjemand sich nicht wohlfühlen, ein Problem oder sonstige Sorgen haben, dann möge er oder sie jetzt sprechen. Ist dies nicht der Fall, halten Sie bitte Ihre Klappe.«
Eilig lasse ich den Bogen in meiner Tasche verschwinden, ohne mir vorher die Note anzusehen. Für den Schock habe ich auch später noch genügend Zeit. Außerdem kann ich auf neugieriges Publikum verzichten. Ich merke, wie sich Melli immer wieder zu mir umdreht, und auch die anderen werfen mir hin und wieder verstohlene Blicke zu.
»Alles klar?«, fragt mich Lena mit besorgter Stimme.
Saublöde Frage. Natürlich ist nichts klar, überhaupt nichts. Ich glaube, in meinem ganzen Leben ist mir noch niemals etwas so unklar gewesen. Aber sie ist meine Freundin, sie meint es nur gut und ich habe sie gerne, darum nicke ich brav und bestätige ihr, es würde mir gut gehen. Lena lächelt mich an und ich versuche es mit einer gequälten Grimasse, die einem Grinsen ähneln soll.
Auch an dem Tisch vor uns, versucht man, die Pflichten der Freundschaft zu erfüllen. Melli tätschelt immer wieder Anjas Schulter und strahlt sie übertrieben fröhlich an.
»Dreizehn Punkte! Das ist ja der absolute Wahnsinn. Ich glaube nicht, dass sonst noch jemand so gut war. Ich habe ja nur sechs Punkte geschafft. Und das auch nur, weil du mit mir gelernt hast. Sonst hätte es wahrscheinlich nicht einmal für drei gelangt.« Wenn man ihr so zuhört, dann könnte man meinen, sie würde einem geistig behinderten Kind dazu gratulieren, dass es sich ohne fremde Hilfe die Schuhe zugebunden hat.
Anja reagiert kaum. Sie beugt sich über ihren Ordner und nickt in regelmäßigen Abständen, um zu zeigen, dass sie Mellis Mühen zu schätzen weiß. Fast könnte ich Mitleid bekommen, aber dann muss ich wieder an den Blick von vorhin denken. An den Hass in ihren Augen…
»Tobi, kommst du mit raus? Sollen wir einen Kaffee trinken?” Behutsam berührt Lena meinen Arm und holt mich so aus meinen Tagträumen.
»Kaffee?«, frage ich verwirrt und schaue mich blinzelnd um. Lena und ich sind die letzten im Klassenzimmer. Die anderen scheinen das Schlachtfeld der Emotionen, das Dacher zurückgelassen hat, so schnell wie nur möglich verlassen zu haben.
Ich folge ihr hinaus in den Flur. Lärm und Trubel begrüßen uns. Es herrscht die typische Pausenstimmung. Fast unser gesamter Jahrgang hat sich um den Kaffeeautomaten versammelt. Die Stimmung ist getrübt. Man spricht leise mit seinem Nebenmann, flüstert und wirft immer wieder unsichere Blicke in die Runde.
Lena und ich halten uns abseits. Ich bin nicht so wahnsinnig scharf darauf, wieder im Mittelpunkt zu stehen.
»Alex ist wieder da!«, flüstert mir Lena ins Ohr.
Ich suche sein vertrautes Gesicht in der Menge und werde sehr schnell fündig. Er steht einige Meter von mir entfernt, umringt von ein paar
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