Chaosprinz Band 2
Klassenkameraden. Sie tuscheln und wispern. Ihren finsteren Mienen nach zu urteilen, geht es in ihrem Gespräch um Dacher und seinen neuesten Versuch, die Skala der Unbeliebtheit zu sprengen.
Alex steht inmitten seiner Freunde und nickt hin und wieder, wenn ihm jemand einen um Aufmerksamkeit heischenden Blick zuwirft. Auch Anja ist Teil dieser illustren Runde. Und auch sie hält sich bedeckt, hüllt sich in würdevolles Schweigen und reckt das schöne, schmale Kinn in die Höhe.
Wie kann man nur so emotionslos leiden? Wo ist die Leidenschaft und die Sehnsucht? Ich könnte das nie. Es reicht mir schon, Alex nur zu sehen, und schon wird mir schwindelig und ich habe das Gefühl, mein Brustkorb müsste sofort entzwei brechen vor lauter Liebe und Traurigkeit. Ich weiß, dass man mir diese Gefühle auch ansieht. Ich schäme mich nicht dafür.
»Ich habe keine Lust mehr«, sage ich schmollend zu Lena, als mich Alex nach weiteren zwei Minuten immer noch gekonnt ignoriert. »Lass uns zurück ins Klassenzimmer gehen. Das wird mir alles zu blöd.«
Schlecht gelaunt und mit einem fiesen Ziehen in der Magengegend mache ich mich auf den Rückweg. Lena und Martin folgen mir, nicht ohne sich immer wieder besorgte Blicke zuzuwerfen.
Es ist doch wirklich deprimierend, mir kommt es so vor, als wäre ich in eine Art Zeitschleife gerutscht, die mich auf direktem Wege zurück in die Vergangenheit katapultiert hat. Ich bin genau dort, wo ich bereits vor einigen Wochen war: Alex tut so, als würde ich nicht existieren, und ich vergehe vor Herzschmerz. Das ist doch zum Kotzen.
Schwer lasse ich mich auf meinen Platz fallen. Das Klassenzimmer füllt sich langsam wieder. Immer noch streifen mich neugierige und interessierte Blicke. Dirk und Jan sehen permanent zu mir herüber. Sie tuscheln.
»Warum bin ich ständig der Mittelpunkt der allgemeinen Lästerattacken?«, frage ich gereizt. Lena zuckt nervös mit den Schultern. Ich mustere sie prüfend. »Lena, du weißt doch etwas, oder? Nun komm schon, raus mit der Sprache.«
Sie reagiert auf meinen herausfordernden Rippenstoß mit einem gequälten Seufzen. »Ich mein's ernst, Tobi. Ich habe wirklich keine Ahnung, was mit der Klasse los ist. Aber mein Instinkt sagt mir…« Sie senkt die Stimme und beugt sich etwas näher zu mir herüber. »Ich glaube, sie haben eins und eins zusammengezählt…«
Toller Hinweis. Kann ich nichts mit anfangen. Bin eine Niete im Rätselraten.
»Hä?«, fasse ich meine Verwirrung gekonnt präzise zusammen.
»Was ich damit sagen will«, erklärt Lena und achtet dabei auf eine betont deutliche Aussprache. »Alex war die letzten Wochen extrem auf dich fixiert. Nun hat er sich von Anja getrennt. Und auf dich reagiert er offensichtlich mit Zorn und verletztem Stolz. Außerdem wissen alle, dass du schwul bist, und Alex scheint nicht wirklich etwas gegen Schwule zu haben, sonst wäre er wohl kaum mit Tom befreundet. Und zu allem Überfluss hat sich nun auch noch herumgesprochen, dass ihr zusammen verreist seid. Ein Wochenende allein mit einem schwulen Jungen. Und danach macht er mit seiner Freundin Schluss…« Lena zieht vielsagend die Augenbrauen nach oben. »Eins und eins zusammenzählen…«
»Willst du damit sagen, die anderen vermuten, dass Alex auch schwul ist?«, frage ich überrascht.
»Exakt, Sherlock Holmes.« Lena nickt.
Das wird Alex überhaupt nicht gefallen…
Ich werde erst wieder aus meinen tiefgründigen Gedanken gezerrt, als Ben den Unterricht beginnt. Ich habe sein Erscheinen gar nicht bemerkt. Recht teilnahmslos und desinteressiert folge ich der Diskussion über Kafkas Verwandlung .
Ich spiele verträumt mit einem Din A4-Blatt herum. Falten, schneiden, reißen, zerknüllen und wieder glatt streichen. Immer wieder dringen Lenas Worte in mein Bewusstsein: eins und eins zusammenzählen…
Armer Alex! Ein ungewolltes Outing ist definitiv das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Vorsichtig sehe ich zur Seite. Er sitzt auf seinem Platz, aufrecht und stolz. Der Blick hinter den grauen Augen ist verschlossen.
Er lauscht Bens Erläuterungen, macht sich Notizen und blättert, wenn erforderlich, in seinem Buch herum. Da sitzt er, schweigend und hochkonzentriert. Das ist seine Art der Rebellion. Und ich schätze und bewundere sie sehr.
Mit sachte pochendem Puls betrachte ich sein schönes Profil. Er presst seine Lippen aufeinander und atmet tief aus. Fahrig streicht er sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und kratzt sich an der Nase. Er nimmt
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